Vom 24. bis zum 30. September 2024 tagte die 79. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, an der rund 130 Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Während dieser Generalversammlung fand in New York auch der UN-Zukunftsgipfels (Summit of the Future) unter dem Motto „Multilaterale Lösungen für ein besseres Morgen“ statt. Der dort unter Federführung von Deutschland und Namibia ausgehandelte Reformplan, der sogenannte Zukunftspakt, wurde anschließend von den Vereinten Nationen angenommen.
Reformbestrebungen der internationalen Architektur der kapitalistischen Moderne
UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnete den Zukunftspakt in seiner Rede als „wichtigen Schritt, um die internationale Zusammenarbeit zu reformieren“ und betonte: „Wir sind hier, um den Multilateralismus vor dem Abgrund zu retten. Ich lud zu diesem Gipfel, weil die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Lösungen des 21. Jahrhunderts erfordern.“ Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte, der Zukunftspakt könne als Kompass für eine stärkere Zusammenarbeit und Partnerschaft in der internationalen Staatengemeinschaft dienen. Mit dem Zukunftspakt bekennen sich die UN-Mitgliedsstaaten dazu, den Weltsicherheitsrat zu reformieren. Im Aktionspunkt 39 steht, man werde dabei „die dringende Notwendigkeit berücksichtigen“, ihn „repräsentativer, inklusiver, transparenter, effektiver, demokratischer und verantwortlicher zu machen“. Konkret soll das mächtigste UN-Gremium nicht mehr die Nachkriegsordnung der Siegermächte abbilden, sondern, so wörtlich, „die Realitäten der gegenwärtigen Welt“. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz forderte in New York, die Reform jetzt zügig umzusetzen: „Man sieht ja auch immer mehr, wie dysfunktional die heutige Struktur des Sicherheitsrates ist. Deshalb muss es jetzt endlich zur Reform kommen.“ Der afrikanische Kontinent wird im Zukunftspakt mit Priorität erwähnt. Die Afrikanische Union fordert zwei ständige Sitze im Weltsicherheitsrat, vor dem Hintergrund, dass eine Milliarde Menschen auf dem Kontinent leben und es bei der Hälfte aller Sitzungen im Weltsicherheitsrat um Afrika gehe.
Der Zukunftspakt beabsichtigt in diesem Kontext die Reform der internationalen Ordnung, die unter anderem Absichtserklärungen für Reformen für die Zusammensetzung des Weltsicherheitsrates, Forderungen nach einer Anpassung des internationalen Finanzsystems zugunsten des sogenannten Globalen Südens, der internationalen Finanzarchitektur (also Weltbank und Internationale Währungsfonds) etc. beinhaltet. Wie ineffizient diese internationalen staatlichen Institutionen für die Lösung von Kriegen und Krisen ist, erklären ihre Vertreter selbst. Im Kontext des Genozids in Palästina und weiteren Kriegen beklagte Guterres eine „Welt der Straflosigkeit“. Eine wachsende Zahl von Regierungen trete das Völkerrecht mit Füßen und untergrabe internationales Recht: „Sie können ein anderes Land überfallen, ganze Gesellschaften verwüsten oder das Wohlergehen ihres eigenen Volkes völlig missachten. Und nichts wird passieren.“
Von einem notwendigen Wandel der Weltordnung wird auch auf der anderen Seite der Welt gesprochen. In einem gemeinsamen Statement auf dem China-Afrika-Gipfel in Peking Anfang September wurde ein „wahrer Multilateralismus“ propagiert und Kritik am Westen formuliert. Die westlichen Mächte mischten sich „in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein, verletzen deren legitimen Rechte und Interessen und behindern so die Entwicklung und den Fortschritt der Menschheit gegen den Widerstand der internationalen Gemeinschaft“. China belässt es nicht nur bei diesem Statement und seiner Kritik an der internationalen Architektur der kapitalistischen Moderne, sondern baut ein ganzes Gerüst neuer internationaler Organisationen gegen die westliche Hegemonie auf. Dazu gehören unter anderem die Belt-and-Road-Initiative; das von China vorangetriebene BRICS-Bündnis, zu deren Gründungsmitgliedern neben China Brasilien, Russland, Indien und Südafrika zählen; und die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB). Zudem gibt es die Globale Sicherheitsinitiative und als ein zentrales Element die Globale Entwicklungsinitiative (GDI).
Kapitalismus als ein Krisenregime
Die Diskussionen im Rahmen der letzten UN-Generalversammlung und der Beschluss zur Verabschiedung des Zukunftspakts bringt deutlich zum Ausdruck, dass nicht nur die Systemgegner, sondern auch der „Club der Reichen“, sprich die Vertreter und Kräfte der kapitalistischen Moderne, sich der Krise des bestehenden Systems bewusst sind. Beide Seiten stellen vermehrt Analysen und Lösungsansätze bezüglich der Krise auf.
Für die demokratischen Kräfte und AktivistInnen fortschrittlicher, revolutionärer und systemkritischer Bewegungen ist es jedoch klar, dass die kapitalistische Moderne selbst der Hauptfaktor war für all die wirtschaftlichen Krisen, Probleme, Hunger, Armut und Umweltkatastrophen, soziale und politische Klassenspaltungen, Macht, extreme Urbanisierung und die sämtlichen dadurch entstehenden Krankheiten, ideologischen Verirrungen sowie moralische Verarmung und Verfall. Interessant ist, dass der von der UNO ignorierte Freiheitskampf der kurdischen Gesellschaft in Kurdistan sich nicht nur mit großem Aufwand auf die Tagesordnung der internationalen Politik gebracht hat, sondern es auch geschafft hat, auf Alternativen aufmerksam zu machen. In diesem Zusammenhang betont der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan, dass sich das in einer globalen Krise befindliche System nur durch ein Krisenregime im Ausnahmezustand aufrechterhalten lässt: „Der Kapitalismus, der die eigentliche Stütze der Moderne bildet, ist selbst zu einer Krisenursache geworden. Da er auf dem Gesetz der Profitmaximierung basiert und funktioniert, indem er die Grundbedürfnisse der Gesellschaft und der Umwelt ignoriert und ihre Ökologie nicht beachtet, kann er sich niemals vor Krisen retten. Überproduktion und Knappheit werden stets gleichzeitig und miteinander verschränkt bestehen. Die Macht, die sich in der Moderne als Nationalstaat neu gestaltet, steigert ihre maximale Selbstvermehrung zuungunsten der Gesellschaft bis hin zum Faschismus und verwandelt das System in ein sich verstetigendes Regime des Krieges nach innen und außen.“1
Das Imperium des Chaos unter US-Hegemonie versucht, die Krise des Systems zu meistern. Die verschiedenen Zentren innerhalb des kapitalistischen Weltsystems stehen hierbei zwischen Restauration und Reform. In seinem vierten Band des Manifests der demokratischen Zivilisation beleuchtet Öcalan die Bestrebungen der verschiedenen Akteure in dieser Krise eingehend.
Zu den USA, als gegenwärtige Hegemonialmacht der kapitalistischen Moderne, erklärt Öcalan: „Die USA als Hegemonialmacht des Systems werden die Fähigkeit an den Tag legen, sich zu restaurieren und so aus der strukturellen Krise herauszukommen. Dies wird aber niemals dazu führen, dass die USA wieder die hegemoniale Stärke erlangen, die sie im zwanzigsten Jahrhundert besaßen. Die USA werden ihre Hegemonie fortzusetzen versuchen, indem sie sie in zunehmendem Maße mit mehreren Mächten, vor allem der Europäischen Union und Japan, teilen.“2 Die USA wird demnach in dieser Restaurationsphase den Fokus auf die Verteidigung ihrer Hegemonie legen.
In Bezug zu den Staaten der Europäischen Union erklärt Öcalan hingegen: „Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union als Ausführende der kapitalistischen Transformation im System der Zentralzivilisation werden ihr Gewicht beibehalten. Sie werden strategische Verbündete der USA bleiben. Allerdings sind es die EU-Mitgliedsstaaten, die die eigentliche Restauration, sogar Reform durchführen müssen. Die Kräfte, die den Kapitalismus, den Nationaletatismus und den Industrialismus am meisten reformieren werden, werden in diesen Ländern auftauchen, denn diese Ländergruppe hat die fünfhundertjährige Geschichte der kapitalistischen Moderne intensiv erlebt. (…) Die EU als die Macht, die in der Kommunikationswelt am meisten weiß und hört, weiß sehr gut, dass sie ihre Moderne ohne diese Reformen nicht wie bisher fortsetzen könnte.“3 Daher konstatiert Öcalan, dass die USA wahrscheinlich durch Restauration und die EU durch Reform gemeinsam aus der Systemkrise gelangen werden. Die Diskussionen rund um den UN-Zukunftspakt können in diesem Kontext besser verstanden und eingeordnet werden.
Abdullah Öcalan geht in seinen Schriften auch näher auf die Rolle Chinas ein, das wie oben erwähnt ebenfalls von der Notwendigkeit eines Wandels der Weltordnung spricht und den Aufbau neuer internationaler Institutionen vorantreibt: „China, eines der ältesten Zivilisationszentren Ostasiens, macht eine sehr spezifische Erfahrung, bei der es den Kapitalismus, den Nationalstaat und den Industrialismus als eine liberal-realsozialistische Synthese erlebt. Es ist nicht zu erwarten, dass es eine sich von der eurozentrischen Moderne deutlich unterscheidende Gestalt annehmen wird. Im Gegenteil, es wird sich darum bemühen, sich in der reaktionärsten deutschen (preußischen) Art der europäischen Moderne zu vervollkommnen. Anders als oft behauptet ist nicht zu erwarten, dass China als ein neues hegemoniales Machtzentrum den Platz der USA einnehmen wird. Es steht zu erwarten, dass es mit der Zeit immer mehr eine als »Liberalisierung« bezeichnete begrenzte kapitalistische Reform durchlaufen wird. Es wird den Nationaletatismus und den Industrialismus weiterhin in starrer Weise ausleben, da es sonst den kapitalistischen Fortschritt nicht aufrechterhalten könnte. Eine demokratisch-sozialistische Transformation könnte auf die Tagesordnung kommen. Diese Möglichkeit ließe sich im Falle der Vertiefung der strukturellen Krise des Kapitalismus vorstellen.“4
Doch auch wenn die nationalstaatliche Systematik gegenwärtig schwerwiegende Probleme erlebt und ihre Risse sich tagtäglich vergrößern, stellt sie nach wie vor regional sowie global gesehen die stärkste Systematik dar: „Während dieses System von mehr als zweihundert Nationalstaaten, regionalen Zusammenschlüssen (vor allem die Europäische Union, USA-Kanada-Mexiko – NAFTA, Südostasien – APEC) und auf der globalen Ebene von der UN (Vereinte Nationen) repräsentiert wird, sind die verschiedenen losen und unstrukturierten ArbeiterInnen- und Volksbündnisse der demokratischen Zivilisation, die weder Staat noch Macht sind, (wie das Weltsozialforum) äußerst unzulänglich.“5
Dekolonisierung in Afrika und der Versuch einer Weltgestaltung nach den Imperien
Im Rahmen des UN-Zukunftpakts stand unter anderem die Frage der besseren Beteiligungsmöglichkeiten für die Länder des Globalen Südens, vor allem Afrika im Raum. Ein näherer Blick in die Zeit der weltweiten Dekolonisierungsprozesse Mitte des 20. Jahrhunderts führt uns die ehemaligen revolutionären Bestrebungen einer Transformation der internationalen Ordnung ausgehend vom afrikanischen Kontinent und auch ihre Grenzen vor Augen.
Am 6. März 1957 trat Kwame Nkrumah, der erste Präsident Ghanas, vor die Öffentlichkeit, um die Unabhängigkeit der Goldküste auszurufen, die fortan als Hommage an das alte westafrikanische Reich „Ghana“ heißen sollte. In seiner Ansprache erklärte Nkrumah, dass das Jahr 1957 die Geburt eines neuen Afrika markiere, das „dazu bereit ist, seine eigene Schlachten zu schlagen und unter Beweis zu stellen, dass der schwarze Mensch am Ende doch dazu fähig ist, sich um seine Angelegenheiten selbst zu kümmern“. Das Ringen um die Unabhängigkeit des Landes, das sich über ein Jahrzehnt hinweg erstreckt hatte, war in seinen Augen nur eine einzelne Schlacht in dem größeren Kampf um die afrikanische Emanzipation. „Unsere Unabhängigkeit ist ohne Bedeutung, wenn sie nicht mit der völligen Befreiung des afrikanischen Kontinents einhergeht“, so Nkrumahs berühmte Formulierung. Diese Verbindung zwischen der Unabhängigkeit Ghanas und der afrikanischen Emanzipation sah aber nicht nur der Gründung neuer Staaten entgegen, sondern betrachtete die nationale Selbstständigkeit auch als einen ersten Schritt für die Bildung einer panafrikanischen Föderation und eine Transformation der internationalen Ordnung. Heute wissen wir, dass der Nationalstaat als politische Organisationsform unfähig ist, die Ideale einer demokratischen, egalitären und antiimperialen Zukunft in die Realität umzusetzen.
Die äthiopisch-amerikanische Politikwissenschaftlerin Adom Getachew beschäftigt sich in ihrem Buch „Die Welt nach den Imperien – Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung“ eingehend mit den weltweiten Dekolonialisierungsbestrebungen und dem politischen Denken der intellektuellen Avantgarde von schwarzen englischsprachigen antikolonialen Kritikern wie Nnamdi Azikiwe, W.E.B. Du Bois, Michael Manley, Kwame Nkrumah, Julius Nyerere, George Padmore und Eric Williams, in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie vertritt die wichtige These, dass die Dekolonisierung ein Vorhaben zur Neugestaltung der ganzen Welt war, das auf die Errichtung einer herrschaftsfreien und egalitären internationalen Ordnung abzielte. Entgegen der gängigen Praxis, die Dekolonisierung als einen Moment in der Herausbildung der Nationalstaaten zu begreifen, in dem das antikoloniale Verlangen nach Selbstbestimmung in der Zurückweisung fremder Herrschaft und der Gründung von Nationalstaaten kulminierte, fasst sie den antikolonialen Nationalismus als Weltgestaltung auf.
Denn die zentralen AkteurInnen in dieser Untersuchung haben den Gedanken der Selbstbestimmung auf eine Weise neu gefasst, die ihn über seine übliche Verknüpfung mit der Nation hinausgeführt hat – und zwar durch ihre Feststellung, dass die Verwirklichung dieses Ideals auf rechtliche, politische und ökonomische Institutionen in der internationalen Sphäre angewiesen ist, die für Nichtbeherrschung sorgen können. Eine zentrale Rolle für diese Auffassung spielt ein umfassender Begriff des Imperiums, der Fremdherrschaft in den internationalen Strukturen ungleicher Integration und rassifizierter Hierarchie verortet. Aus dieser Sicht war das Imperium eine Art der Beherrschung, die über die bilateralen Beziehungen von Kolonisierenden und Kolonisierten hinausging. Deshalb war ein ähnlich globaler antikolonialer Widerpart nötig, um jene Hierarchie zum Verschwinden zu bringen, die diese Beherrschung überhaupt erst möglich machten. Die damaligen antikolonialen Nationalisten waren daher bestrebt, die rechtlichen und materiellen Manifestationen ungleicher Integration zu überwinden und einer postimperialen Welt den Weg zu bereiten, indem sie drei verschiedene Vorhaben verfolgten: die Institutionalisierung eines Rechts auf Selbstbestimmung bei den Vereinten Nationen, die Bildung regionaler Föderationen und die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO).
Nur drei Jahre nachdem Ghana seine Unabhängigkeit erlangt hatte, traten 17 weitere afrikanische Staaten den Vereinten Nationen bei. Dies markierte den damaligen Höhepunkt der Dekolonisierung. Das Jahr 1960 wurde folglich als das „Afrikanische Jahr“ bezeichnet. Der afrikanische Block führte in jenem Jahr bei den UN mit Erfolg die Bemühungen um die Verabschiedung der Resolution 1514 der Generalversammlung an, die den Titel „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“ trug. Diese Erklärung bezeichnete Fremdherrschaft als Menschenrechtsverletzung, bekräftigte das Recht auf Selbstbestimmung und forderte das sofortige Ende aller Arten von kolonialer Herrschaft.
Das Jahr 1960, dass einen radikalen Bruch in der Geschichte der modernen internationalen Gesellschaft markierte, wird gewöhnlich in eine Standartauffassung von Dekolonisierung integriert, der zufolge der Übergang vom Imperium zum Nationalstaat und die Erweiterung der internationalen Gesellschaft um neue Staaten eine nahtlose und zwangsläufige Entwicklung war. Dieses Bild von der Dekolonisierung beruht auf der Ansicht, dass die antikolonialen NationalistInnen die Sprache der Selbstbestimmung aus der liberalen internationalistische Tradition des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson entliehen hätten, um die Unabhängigkeit von fremder Herrschaft abzusichern. Durch die Übernahme dieser Rhetorik liberaler Selbstbestimmung, hätten die NationalistInnen der kolonialisierten Welt letztendlich auch die bereits existierenden institutionellen Formen des Nationalstaates nachgeahmt.
Adom Getachew weist jedoch darauf hin, dass das Verständnis des antikolonialen Nationalismus als Weltgestaltung, jedoch die zentralen Prämissen dieser Standartauffassung bzw. dieses Narratives torpediert. Denn erstens fasst ein solches Verfahren den Begriff des Imperiums so auf, dass er über bloße Fremdherrschaft hinausgeht, indem es verdeutlicht, dass und wie schwarze antikoloniale KritikerInnen das Imperium auch als Struktur einer internationalen rassifizierten Hierarchie theoretisch aufgearbeitet haben. Unter Bezugnahme auf W.E.B. Du Bois’ berühmte Diagnose, dass „das Problem des 20. Jahrhunderts das der colour line, der Trennung nach Hautfarbe, ist“, richteten die ProtagonistInnen dieser Zeit ihre kritische Aufmerksamkeit also auf das in der Entstehung der modernen internationalen Gesellschaft fortlebende Erbe einer rassifizierten Hierarchie und der Sklaverei. Ihre Vision einer postimperialen Weltordnung motivierte sie daher dazu, internationale Institutionen zu schaffen, die die Bedingungen der Nichtbeherrschung sicherstellen konnten. Diese These, dass nationale Unabhängigkeit auf internationale Institution angewiesen sei, war eine der entscheidenden Einsichten der antikolonialen Konzeption von Selbstbestimmung.
Dieses internationale Projekt, die 1964 im Rahmen der ersten Welthandelskonferenz ins Leben gerufene und ein Jahrzehnt später in einer Charta und einer Erklärung ausformulierte Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO), war der ehrgeizigste Plan der afrikanischen nationalen Befreiungsbewegungen für eine antikoloniale Weltgestaltung. Das Weltgestaltungsprojekt der Neuen Weltwirtschaftsordnung (NWWO) wurde damals nach dem Scheitern der regionalen Föderationen eingeleitet. Denn die postkolonialen Staaten, die großteils primär Rohstoffproduzenten waren, erlebten eine signifikante Verschlechterung ihrer Handelsbedingungen, die ihre ökonomische Entwicklung bedrohte und einmal mehr deutlich machte, wie die postkoloniale Nationenbildung nach wie vor für äußere Einflüsse anfällig war. Die NWWO versuchte, ein breites Spektrum globaler Wirtschaftsfragen anzugehen, darunter das Eigentum an natürlichen Ressourcen an Land und in den Meeren, das Verhältnis von mutinationalen Unternehmen zur staatlichen Autorität sowie die Verschiffung und Verteilung von Handelsgütern. Im Kern ging es bei diesem Projekt jedoch darum, die ungleichen Handelsbedingungen zwischen den Entwicklungs- und den Industrieländern anzugehen.
Auf ihrem Höhepunkt versuchten die nationalen Befreiungskämpfe also, sich innerhalb des globalen Systems zu schützen, indem sie eine Art „Internationalismus der neuen postkolonialen Nationalstaates“ schufen. Im Namen der Selbsterhaltung begannen diese neuen Nationalstaaten jedoch bald, die von ihnen „befreiten“ Gesellschaften autoritär zu regieren oder Gewalt gegen andere Differenzen innerhalb ihrer eigenen Staaten anzuwenden. Diese antikolonialen Bewegungen akzeptierten die kolonialen Grenzen, die sie geerbt hatten, und pochten auf territoriale Integrität. Dies führte zu zahlreichen (zwischen-staatlichen) Konflikten, wie z. B. der Krise in der Provinz Katanga während der Kongo-Krise von 1960 bis 1963 und dem Biafra-Krieg 1967-70. Das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung verpuffte, nachdem diese große historische Ambitionen nicht aufrechterhalten und umgesetzt werden konnte.
Dieses historische Erbe führt uns vor Augen, dass eine nationalstaatliche Lösung nicht in der Lage ist, das Schicksal der Völker zu bestimmen und sie vor der Integration in das globale kapitalistische System zu bewahren. Der Fokus auf den Nationalstaat als zentrale politische Organisationsform bildete den Beginn des Niedergangs der postkolonialen Selbstbestimmung und ist einer der zentralen ideologischen und politischen Gründe für den Zusammenbruch der ambitionierten antikolonialen Weltgestaltung. Zwei weitere Gründe können für das Scheitern genannt werden. Zum einen die Interpretation des Selbstbestimmungsrechts der Völker als Gleichbedeutung mit der Gründung von Nationalstaaten zu verstehen. Zum anderen der zunehmende Bedeutungsverlust internationaler Institutionen wie der Vereinten Nationen bzw. deren Marginalisierung. Die Bühne der UNO und ihrer Generalversammlung sind heute eher ein Ort, an dem die Staatschefs von Ländern wie der Türkei und Israel ihre genozidale Politik am kurdischen und palästinensischen Volk offen ankündigen und mit Karten erläutern können – ohne auch nur die geringste Angst davor haben zu müssen, mit Folgen oder gar Sanktionen zu rechnen.
Aus der Niederlage lernen
In diesem Kontext besteht auch der Ausgangspunkt des strategischen Wandels, abgekürzt „Paradigmenwechsel“, der Freiheitsbewegung Kurdistans und ihres Vordenkers Öcalan in der Einsicht, dass keine der antikapitalistischen, antikolonialen Kräfte des 20. Jahrhunderts gewonnen hat. Sie erlitten alle auf sehr unterschiedliche Weisen Niederlagen. Kapitalismus und Liberalismus hätten „zuerst die deutschen Sozialdemokraten, dann die realsozialistischen Systeme einschließlich Russlands und Chinas und schließlich die Systeme der nationalen Befreiung assimiliert. Alle drei Strömungen haben eine klare Niederlage gegen den Liberalismus erlitten, und leider haben sie bisher keine klare Selbstkritik daran geübt“.6 Der Paradigmenwechsel ist in diesem Sinne auch als Lernprozess aus den Erfahrungen von nationalen Befreiungsbewegungen hervorgegangen, die von der kapitalistischen Moderne absorbiert wurden. Ursprung aller Fehler ist, dass der zentralistische Nationalstaat als grundlegender Rahmen für die Arbeiterklasse im Besonderen und die Gesellschaft im Allgemeinen akzeptiert wurde. Die anti-systemischen Kräfte und auch die ProtagonistInnen der afrikanischen nationalen Befreiungsbewegungen konnten keine ganzheitliche und strukturelle Kritik der kapitalistischen Moderne entwickeln und kein alternatives System schaffen. Denn sie stützten ihre revolutionäre Politik auf den Nationalstaat, der neben dem Industrialismus und Kapitalismus ein zentrales Standbein der kapitalistischen Moderne darstellt. Sobald sie zu Nationalstaaten wurden und in einigen Industriezweigen Fortschritte erzielten, machten ihr Antiimperialismus und ihr Antikapitalismus einem extremen Modernismus Platz. Die realsozialistischen und befreiungsnationalistischen Experimente stellten dadurch langfristig nur frisches Blut für die kapitalistische Moderne dar.
Globaler Demokratischer Konföderalismus als Kompass zur Weltgestaltung der Völker
Öcalan betont in diesem Sinne, dass die durch die kapitalistische Moderne verursachten Probleme stets mit nationalstaatlichem und nationalistischem Denken sowie entsprechenden Paradigmen angegangen wurden. Der Nationalstaat wurde immer als der wichtigste Akteur für die Lösung dieser Probleme präsentiert und als einziges Modell gefördert. Um die Nationalstaaten richtig zu verstehen, muss jedoch ihre Stellung im hegemonialen System und ihre Verbindungen zu Kapitalismus und Industrialismus analysiert werden. Und diese Analyse für uns klar vor Augen, dass der Nationalstaat eine Stütze der kapitalistischen Moderne ist.
Der zentrale Aspekt im neuen Paradigma Öcalans und des Konzepts der demokratischen Nation betrifft daher die Neu-Interpretation des Selbstbestimmungsrecht der Völker: „Dass das Problem des Staates auch in der sozialistischen Ideologie nicht richtig gelöst wurde, hat die ganze Sache noch undurchsichtiger gemacht. Die ausschlaggebende Ursache für die Verschärfung dieses Problems war jedoch, dass das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« als gleichbedeutend mit »für jede Nation einen Staat« aufgefasst wurde. (…) Das Selbstbestimmungsrecht der Völker beinhaltet das Recht auf einen eigenen Staat. Die Gründung eines Staates vergrößert jedoch nicht das Maß der Freiheit eines Volkes. Das auf Nationalstaaten basierende System der Vereinten Nationen ist ineffizient geblieben. Mittlerweile sind Nationalstaaten zu ernsthaften Hindernissen für jegliche gesellschaftliche Entwicklung geworden. Der demokratische Konföderalismus ist das Gegenparadigma des unterdrückten Volkes.“7 Öcalan macht also deutlich, dass der einzige Weg zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker nicht in der Gründung eines Nationalstaats besteht, sondern dass der demokratisch-konföderale Ansatz eine neue Form der Nutzung dieses Rechts sein kann: „Die KCK (Koma Civakên Kurdistan – Union der Gemeinschaften Kurdistans), die wir als demokratische und nicht-etatistische Interpretation des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in der kurdischen Frage bezeichnen können, muss als Ausdruck tiefgreifenden Wandels bei der Lösung der nationalen Frage bewertet werden. (…) Der demokratische Konföderalismus ist in Kurdistan gleichzeitig eine anti-nationalistische Bewegung. Sie beabsichtigt die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch die Ausweitung der Demokratie in allen Teilen Kurdistans, ohne die bestehenden politischen Grenzen infrage zu stellen. Ihr Ziel ist nicht die Gründung eines kurdischen Nationalstaates. Die Bewegung beabsichtigt die Etablierung föderaler, allen Kurden offenstehender Strukturen im Iran, in der Türkei, in Syrien und im Irak sowie gleichzeitig die Bildung einer übergreifenden Konföderation für alle vier Teile Kurdistans.“8
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen strukturellen Krise der kapitalistischen Moderne und der Reform- und Restaurationsbemühungen der systemischen Kräfte beinhaltet die Lösungsperspektive des demokratischen Konföderalismus auch eine internationalistische Perspektive. Denn es stellt sich die Frage, was angesichts der Diskussionen der Vertreter der kapitalistischen Moderne um den UN-Zukunftspakt, die Vision der Kräfte der demokratischen Moderne für die (Neu-)Gestaltung der Welt ist. Es ist nämlich ein Fakt, dass auf globaler Ebene die verschiedenen Bündnisse der demokratischen Moderne äußerst unzulänglich sind.
Öcalan sieht zur Überwindung dessen vor, dass der Globale Demokratische Konföderalismus entwickelt werden sollte, d.h. lokale, regionale und nationale demokratische Konföderationen und dazu gehörige Parteien und zivilgesellschaftliche Apparate: „Die globale Einheit der demokratischen Nationen, als Alternative zu den Vereinten Nationen, ist die ›Welt-Konföderation der Demokratischen Nationen‹. Kontinente und große Kulturräume können auf der Ebene darunter eigene ›Konföderationen Demokratischer Nationen‹ bilden.“9 Und Öcalan führt weiter aus: „Gegenüber dem Verständnis vom Zusammenschluss der Nationalstaaten zu Vereinten Nationen, die sich unter der Kontrolle der Super-Hegemonialmacht befinden, befürwortet der demokratische Konföderalismus eine ›Globale Demokratisch-Konföderale Union nationaler Gesellschaften‹. Für eine sicherere, friedlichere, ökologischere, gerechtere und produktivere Welt brauchen wir einen quantitativ und qualitativ verstärkten Zusammenschluss viel breiterer Gemeinschaften nach den Kriterien der demokratischen Politik in einer „Globalen Demokratischen Konföderation“.10
Für den Aufbau dieser globalen Alternative sieht Öcalan daher den Aufbau eines „globalen Demokratiekongress der Völker, der nicht auf Staaten fixiert ist“11 vor, in dem die lokalen demokratischen, kulturellen, feministischen Strömungen und die neue progressive Linke gegen den Globalismus auf verschiedenen Plattformen zusammen kommen können. Während der UN-Zukunftspakt also als Kompass der Kräfte der kapitalistischen Moderne fungiert, stellt der Globale Demokratischer Konföderalismus den Kompass und die eigene Agenda zur demokratischen Weltgestaltung der Völker dar.
1Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band): Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten
2Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band): Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten
3Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band): Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten
4Manifest der demokratischen Zivilisation (Vierter Band): Die demokratische Zivilisation – Wege aus der Zivilisationskrise im Nahen Osten
5Manifest der demokratischen Zivilisation (Dritter Band): Soziologie der Freiheit
6Manifest der demokratischen Zivilisation (Zweiter Band): Die kapitalistische Zivilisation – Unmaskierte Götter und nackte Könige
7Abdullah Öcalan, Demokratische Nation und Demokratischer Konföderalismus (International Initiative Edition)
8Abdullah Öcalan, Demokratische Nation und Demokratischer Konföderalismus (International Initiative Edition)
9Manifest der demokratischen Zivilisation (Dritter Band): Soziologie der Freiheit
10Manifest der demokratischen Zivilisation (Dritter Band): Soziologie der Freiheit
11Abdulllah Öcalan, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt