Chile hat mehr als vier Jahrzehnte Neoliberalismus hinter sich, der durch die von 1973 bis 1990 herrschende Militärdiktatur eingeführt wurde. In der Folge wurden viele Bereiche des öffentlichen Lebens wie Bildung, Gesundheit oder soziale Sicherheit einem radikalen Prozess der Privatisierung und Kommerzialisierung unterworfen. Ein zusätzlicher Aspekt dieses Programms war die intensive Ausbeutung des Gemeinguts an natürlichen Ressourcen wie etwa Land, Wasser und Bodenschätze, um ökonomisches Wachstum zu generieren. Für viele Jahre hat sich Chile der Welt als erfolgreiches Beispiel neoliberaler Politik präsentiert. Selbst gemäßigte Politiker wie der bis zum 11. März 2022 regierende Präsident Sebastián Piñera haben Chile als »Oase in Lateinamerika« bezeichnet und so den kolonialen Mythos reproduziert, nachdem Chile ein »Beinahe-Industriestaat«, ein »fast europäisches« Land sei.
Seit 2006 wurde dieses neoliberale Modell massiv in Frage gestellt. Die antineoliberale Revolte, die im Oktober 2019 begann, stellt den Höhepunkt dieser wachsenden Opposition dar. Der Protest entzündete sich am 14. Oktober 2019 als Reaktion von Schüler:innen auf die steigenden Fahrpreise in Santiago und ebnete schon bald den Weg für Massendemonstrationen gegen die prekären Lebensbedingungen in Chile. Die politischen Forderungen, die im Laufe der Revolte formuliert wurden, variieren: ein Ende des privatisierten Bildungssektors, die Abschaffung der privaten Altersvorsorge, eine Verstaatlichung der Wasserversorgung, ein Ausbau und Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems. Transversal zu diesen Kämpfen hat sich der feministische Kampf gegen sexistische Gewalt und für ein Ende des Patriarchats etabliert.
Im folgenden werden wir kurz drei Beispiele für mobilisierende Momente aufführen, die zu den charakteristischen Merkmalen der Oktoberrevolte beigetragen haben. Erstens sind hier die prekären Lebensbedingungen in Chile zu nennen, die sich mit der Transformation der Diktatur verschärft und im Laufe der Zeit deutlicher wurden, besonders im Bereich der Altersvorsorge. Das Rentensystem wurde in den 1980er Jahren zu einem privaten Umlagesystem (abgekürzt: AFP) umgebaut. Vor einigen Jahren begannen Menschen in den Ruhestand zu treten, die ihr gesamtes Arbeitsleben in das zu 100 % privatisierte Rentensystem eingezahlt hatten und beziehen seitdem eine Rente, die weit unter ihrem Durchschnittsgehalt liegt. Gegenwärtig beziehen die Hälfte aller Altersrentner in Chile weniger als 186 $ monatlich. Dagegen formierte sich eine Bewegung gegen die AFP, die aus Finanzkonzernen besteht, die mit dem Kapital aus den Rentenbeiträgen an den Aktienmärkten spekulieren.
Das zweite und bekannteste Element der Revolte ist die Studierendenbewegung. Diese Bewegung begann schon 2006, aber 2011 gewann sie beträchtlich an Kraft mit der Mobilisierung gegen Profite im Bildungssektor. Die nachwachsende Generation in Chile hat die Frage aufgeworfen, über Bildung als Ware und über den Neoliberalismus als ganzen, eben wegen den schweren Belastungen, die die Schulden aus Studienkrediten für ihre Familien bedeuten.
Eine dritte treibende Kraft ist die Mobilisierung gegen die Enteignung von Flächen im Zusammenhang mit dem Extraktivismus als einer Säule des Neoliberalismus in Chile. Einige Gruppen haben diesen Zusammenhang schnell hergestellt wie die Mapuche im Jahre 1990, als sie sich kraftvoll gegen die Abholzung von Wäldern wandten. Verschiedene sozio-ökologische Probleme haben sich im Laufe des letzten Jahrzehnts verschlechtert. Unter anderem gibt es Konflikte um die Agrarindustrie, Energie und Bergbau, die zunehmen und sehr starke Widerstandsbewegungen mobilisieren.
Eine weitere wichtige Komponente der Mobilisierungen nach dem Oktober 2019 ist das Entstehen und Verfestigen einer territorialen Organisation. Nach den ersten Mobilisierungen bildeten sich verschiedene regionale Versammlungen, die die Koordinierung der Bewegung zur Aufgabe hatten, auf staatliche Repression reagierten und die politischen Ideen für ein Leben »jenseits des Neoliberalismus« diskutierten. Dieser kraftvolle Prozess des Wiederaufbaus sozialer Organisierung wurde durch zwei Faktoren geschwächt: 1) Eine Übereinkunft über eine »von oben« eingesetzte verfassungsgebende Versammlung, die unter den Vorgaben der politischen Parteien eine neue Verfassung ausarbeiten soll und 2) die Covid-19-Pandemie, die durch Ausgangsbeschränkungen die Organisation von Versammlungen stark erschwerte. Obwohl viele Versammlungen ihre Arbeit eingestellt haben, gelang es einem kleinen Teil ihre Arbeit der Lösung konkreter Probleme der prekären Lebensbedingungen in Pandemiezeiten zu widmen (Solidaritätsnetzwerke, Gemeinschaftsversorgung mit Nahrungsmitteln, präventive Gesundheitsfürsorge etc.).
Der am längsten andauernde und dynamischste Teil der Widerstandsbewegung muss notwendigerweise gesondert aufgeführt werden: der Kampf des Volkes der Mapuche. Die Forderungen der Mapuche nach Landrechten gehen auf Zeiten weit vor Beginn des Neoliberalismus zurück und haben mit der jahrhundertelangen kolonialen Besatzung zu tun, die sie ihrer Territorien beraubt und ihr kulturelles Erbe verleugnet hat. Das gegenwärtige Gesicht dieser Enteignung stellt das Vorgehen von Forstwirtschaftsunternehmen, Agrarexporteuren und Wasserkraftwerksbetreibern dar. 2019 hat sich die Mapuche-Bewegung in vielen verschiedenen Räumen des angestammten Mapuche-Gebietes bei Landbesetzungen manifestiert, die hauptsächlich gegen Holzeinschlag oder Wasserkraftprojekte gerichtet sind. Viele von diesen Besetzungen hängen nicht mit dem eigentlichen Zweck zusammen, für die der Staat diese rechtliche Institution 1992 ursprünglich geschaffen hatte (Nationale Indigene Entwicklungskörperschaft), sondern werden durch die Praktiken der Autonomie und der territorialen Kontrolle getragen. Man kann feststellen, dass der soziale Protest, der im Oktober begann, zwar nicht von den Mapuche angeführt wird, aber dass dieser neue politische Perspektiven eröffnet hat, die Verfahren zur Rückerstattung von Land zu steigern (die seit der staatlichen Ermordung des Mitglieds der Mapuche-Gemeinde Camilo Catrillanca zurückgefordert wurden). Den Daten zufolge gab es zwischen Januar und April 2020 17 Rückerstattungen von Land, aber im gleichen Zeitraum im Jahr 2021 bereits 134.
Konservative Reaktion
Die Intensität, mit der zwischen Oktober 2019 und März 2020 die Grundlagen des Neoliberalismus herausgefordert wurden, hat Teile der ökonomisch-politischen Elite des Landes dazu geführt, eine starke Verteidigung des aktuell herrschenden Systems vorzubereiten. Neben einer Kriminalisierung der Protestierenden im öffentlichen Diskurs haben die wichtigsten Wirtschaftsvertreter wie etwa die Konföderation von Produktion und Handel und die Nationale Gesellschaft für Landwirtschaft vehement gegen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung opponiert, mit dem Argument, dass so »Linksaußen« die wirtschaftliche Entwicklung des Landes blockieren könne, wenn so eine neue Verfassung die Grundsteine des Neoliberalismus antaste.
Die konservative Reaktion hat auf verstärkte staatliche Repressionen gedrängt, um Teilnehmer:innen der sozialen Aufstände in Chile zu verfolgen und zu kriminalisieren. Beispiele für diese Maßnahmen sind die Änderung des Strafgesetzes, um Vergehen gegen die »öffentliche Ordnung« zu bestrafen (genannt »Antiplünderungsgesetz«) und die Initiative durch den Präsidenten, die »kritische Infrastruktur« durch die Streitkräfte schützen zu lassen.
Diese Maßnahmen stehen für eine verstärkte Tendenz des Staates, auf die Mobilisierungen durch territoriale Konflikte mit Repression zu reagieren. In diesem Kontext kam die Erklärung einer Pandemie durch Covid-19 gerade recht, um die Kontrolle zurückzugewinnen und dieses mit der Gesundheitsvorsorge zu rechtfertigen. Zwei Jahre nach der Oktober-Rebellion hat dieser besorgniserregende Trend, eine Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit zu fordern, in der öffentlichen Debatte an Raum gewonnen. Das drückt sich aus in dem hohen Stimmenanteil für den Rechtsaußen-Kandidaten José Antonio Kast, der 27,9 % der Stimmen im ersten Wahlgang 2021 erhalten hat, verglichen mit 7,9 % 2017. Kast trat mit dem Wahlversprechen an, den »Frieden wieder herzustellen« im Land und »Gewalttäter und Terroristen« zu bestrafen, die die öffentliche Ordnung stören.
Das Territorium der Mapuche (Wallmapu) hat als historisches Grenzgebiet im »permanenten Ausnahmezustand« der Militarisierung eine Sonderbehandlung erhalten. Die Regierung erklärte einen »konstitutionellen Notstand« in der Region, wo die Mapuche-Bewegung ihren Schwerpunkt hat. Zusätzlich werden die historischen Diskriminierungen und Rassismen gegen das Volk der Mapuche in neue Formen gegossen unter dem Deckmantel der Bekämpfung der Drogenkriminalität (Mapucheorganisationen werden des Narco-Terrorismus bezichtigt).
Der antineoliberale Kampf im Labyrinth?
Chiles Aussichten sind unklar nach zwei Jahren der größten sozialen Umwälzung der letzten 35 Jahre. Die Energie, die auf die Straße getragen wurde, und die Hoffnung in den Gesichtern von Millionen, die ihre Wohnungen verließen, um zu protestieren, haben uns glauben lassen, dass ein Wandel in der sozialen Ordnung möglich sei und das schon bald.
Wie auch immer, die Schwächung der Mobilisierung und der territorialen Organisation zusammen mit den jüngsten Wahlerfolgen der extremen Rechten hat mehrere Analysten zu dem Schluss verleitet, dass sich der Wind für die Rebellion gedreht hat.
Ein schwächender Faktor in der Mobilisierung ist der Prozess der Institutionalisierung gewesen, auf den das Establishment wiederholt gedrungen hat. Die Schaffung einer verfassungsgebenden Versammlung war ein Versuch, die Unruhen zu kanalisieren und einen Konsens zu erzwingen, der Ordnung legitimiert, auch wenn die Versammlung Forderungen der sozialen Bewegungen aufgreift und einige ihrer Repräsentant:innen umfasst. Der Stand der Verfassungsgebung ist noch immer offen, weil es Fraktionen innerhalb der Versammlung gibt, die eine neue Verfassung erkämpfen wollen, die den Anfang des Endes vom Neoliberalismus bildet. Ein konkreter Effekt ist auf jeden Fall, dass die Auseinandersetzung sich in den konstitutionellen Raum verschoben hat, weg von den sozialen Bewegungen und territorialen Versammlungen, die die Revolte angeführt haben.
Zusätzlich zu der verfassungsgebenden Versammlung gab es in den letzten Jahren starken Druck durch die sich häufenden Wahltermine. Wir waren Zeugen aufeinander folgender Wahlen für populäre Ämter (Verfassungsgeber, Regionalgouverneure, Bürgermeister, Abgeordnete, Regionalabgeordnete, Senatoren, Präsidenten). Es war ein »Superwahljahr«, das dazu führte, dass sich breite Teile der der Linken primär mit der zeitlichen Abstimmung einer »Politik von Oben« befassten, was die territorialen Organisationen schwächte. Die letzte Wahl und diejenige, auf die mit am meisten Angst geblickt wurde, war die Wahl zum Präsidenten, wo Gabriel Boric (Vertreter der Breiten Front, der Kommunisten und anderer linken Kräfte) und Antonio Kast (Christliche Soziale Front zusammen mit der extremen Rechten) gegeneinander antreten. Boric trat mit dem erklärten Willen an, den Neoliberalismus beenden zu wollen auf Basis eines sozialdemokratischen Programms, dass sich an westeuropäischen Vorbildern orientiert (besonders der skandinavischen Länder). Seine Rhetorik wurde zunehmend moderater, um die »politische Mitte« zu gewinnen, unter der Annahme, dass ein wesentlicher Teil des Landes keine großen Umbrüche will und sich nach zwei turbulenten Jahren nach Ruhe sehnt. Kast seinerseits beschwörte den Geist von »Ruhe und Ordnung« in einer Allianz mit einem neu aufgelegten Pinochetismus, religiösem Fundamentalismus und ultraliberaler Wirtschaftspolitik.
Jenseits aktueller Wahlergebnisse ist die politische Szene des Regierungssystems äußerst unbeständig. In einem Falle eines Wahlsieges für Kast ist hier der hervorspringende Punkt seines politischen Projektes, dass es keinerlei Zukunftsversprechen beinhaltet. (1) Anders als bei den Neoliberalen der 1980er und 1990er Jahre gibt es hier keine Verheißung eines »neuen Projektes«. Seine Aussage ist, dass »Stärke kommt und Ordnung schafft«. Seine ökonomischen Vorschläge sind eine überladene Version des Neoliberalismus gepaart mit kulturellem Konservativismus. Aber die Restaurationsbemühungen müssen in einer Welt und einem Lateinamerika im Umbruch Illusion bleiben. Die Unsicherheit, die die Pandemie geschaffen hat und die ökonomische Krise machen es für einen überladenen Neoliberalismus schwer, die Forderung nach Gerechtigkeit, den Kampf gegen Gewalt und Ungleichheit glaubhaft für sich zu vereinnahmen.
Wenn Chile etwas aus dem Oktober 2019 lernen kann, dann ist es, dass hier ein sozialer Vulkan explodiert ist, der wieder explodieren kann, weil die Wunden, die ihn verursacht haben, immer noch offen liegen.Es liegt an den sozialen Bewegungen und den indigenen Gruppen in Chile, Wege für diese vulkanische Kraft zu finden, die uns zu transformativen Horizonten führt.
Alexander Panez hat an der Universität Valparaiso Soziale Arbeit sowie an der Universität Chile Stadtplanung studiert und an der Universidad Federal Fluminense, Brasilien in Geographie promoviert https://ubiobio.academia.edu/AlexanderPanez
Aus der Stichwahl im Dezember 2021 ging Boric als Sieger hervor; er wird am 11. März das Amt des Präsidenten übernehmen.