Am 30. und 31. Juli 2021 fand in der libanesischen Hauptstadt Beirut die 2. Konferenz der Frauen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika statt. Fast 100 Frauen aus dem Libanon, allen vier Teilen Kurdistans, der Türkei, dem Iran, dem Irak, Syrien, Palästina, Jordanien, dem Sudan, Tunesien, Ägypten und Marokko haben an der Konferenz unter dem Motto »Mit der Einheit der Frau werden wir die demokratische Revolution realisieren« teilgenommen. Die 1. Konferenz hatte 2013 in Amed/Nordkurdistan stattgefunden. In den acht Jahren, die seit der ersten Zusammenkunft vergangen sind, ist in der Region viel passiert. Aus diesem Grund gab es viel zu erzählen, diskutieren und analysieren.
Die Konferenz fand zu einer schwierigen Zeit, unter schwierigen Bedingungen statt. Der Veranstaltungsort Beirut war noch immer schwer gezeichnet von der ein Jahr zuvor geschehenen Explosion am Hafen, fehlendem Strom und Benzin, leeren Regalen in den Läden und nur sehr schlechter Internetverbindung. Aber nicht nur im Libanon selbst ist die allgemeine Lage momentan schwierig. In allen Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas herrscht ein Klima der Krise. Die gesamte Region ist gezeichnet von Krieg und Konflikt, politischen und wirtschaftlichen Krisen, Flucht und Vertreibung, Instabilität und Unsicherheit. Pandemiebedingt und aus bürokratischen Gründen konnten zudem nicht aus allen Ländern der Region Frauen anreisen.
Viele der Frauen kannten sich schon von Online-Veranstaltungen der Initiative »Unsere Einheit ist unsere Kraft«, einem MENA-Netzwerk (1), das die Konferenz organisiert hat. Auch war ein wichtiger Teil der Delegierten schon auf der ersten Konferenz in Amed gewesen. Aber für die meisten war diese Art der Zusammenkunft etwas Neues. Denn es passiert nicht oft, dass Frauen aus dem gesamten MENA-Gebiet auf einer Konferenz zusammenkommen. Wenn, dann sind diese meist gesponsert und erzielen inhaltlich nicht wirklich Veränderung, sondern dienen eher der NGOisierung der Frauenbewegung in der Region. Aber basisorientierte, selbstfinanzierte und in diesem Sinne von großen NGOs und Regierungen unabhängige Foren von Frauen, die radikale Veränderung erzielen, werden nur selten organisiert. Umso mehr Bedeutung hatte die Konferenz sowohl für die Teilnehmerinnen selbst als auch für die Frauen aus der Region, die die Diskussionen online, live und über die Presse mitverfolgt haben.
Am ersten Tag fanden die Diskussionen meist in Form von Panels statt. Die erste Podiumsdiskussion widmete sich der Rolle von Frauen in der Bewältigung der Krisen in der MENA-Region. Hierdurch sollte zunächst einmal ein Bild der momentanen politischen Lage in der Region gezeichnet werden. Diese Bestandsaufnahme aus Frauenperspektive ist dringend notwendig, denn in den vergangenen Jahren ist es im gesamten Mittleren Osten und Nordafrika zu großen Veränderungen und Entwicklungen gekommen. Besonders hervorzuheben wären hier neben dem sog. Arabischen Frühling der Konflikt in Syrien, der Einmarsch des sog. Islamischen Staats im Norden Syriens und des Irak, der Genozid an den Êzîd:innen in Şengal, der sich immer mehr auf den Irak ausbreitende Konflikt zwischen den USA und dem Iran, der Konflikt in Libyen und dem Mittelmeergebiet, das Abkommen zwischen USA und Taliban in Afghanistan sowie türkische Besatzungsoffensiven in Rojava und Südkurdistan. Diese Konflikte haben in den wenigen vergangenen Jahren unzählige Menschen das Leben gekostet, Millionen zur Flucht gezwungen und zu einem hohen Anstieg von Armut und Gewalt geführt.
Die führende Rolle von Frauen in den Kämpfen der Region
Aber diese Negativentwicklungen stellen nur eine Seite der Medaille dar. Auf der anderen Seite hat es in den vergangenen Jahren auch wichtige Entwicklungen auf der Ebene von gesellschaftlichen und politischen Kämpfen gegeben. Die Rojava-Revolution stellt hierbei den größten Lichtblick dar. Aber auch die Revolution im Sudan, der Widerstand gegen den Faschismus in der Türkei oder der Kampf gegen das iranische Unterdrückungsregime sind Glieder einer Kette von organisierten Kämpfen für Freiheit und Demokratie in der Region. Das Interessante an diesen Widerständen ist, dass sie von Frauen geführt werden. Egal ob im Sudan, in Kurdistan, in der Türkei, in Tunesien, im Iran oder in Afghanistan; Frauen stehen nicht nur für die Rechte ihres Geschlechts ein, sondern haben eine führende Rolle im Kampf für Demokratie inne. Diese führende Rolle lässt sich weniger an Zahlen und mehr an der Wirkung der Frauen in diesen Kämpfen ablesen. Sie verbreiten Mut, Kampfeswillen und Widerstandskraft.
Um diese historische Rolle, die Frauen momentan im Mittleren Osten und in Nordafrika spielen, ging es in den weiteren zwei Podiumsdiskussionen am ersten Tag der Konferenz. Hier haben Frauen aus der Türkei, dem Libanon, Jordanien, dem Irak, Tunesien, Rojava, Palästina und Ägypten über ihre konkreten Erfahrungen und Errungenschaften berichtet. Dabei wurde der Fokus vor allem auf Wege und Methoden gerichtet. Beispielsweise haben Frauen aus der Türkei und Nordkurdistan über autonome Organisierung und das Modell des Ko-Vorsitzes berichtet. Im Beitrag aus Jordanien ging es um die Erfahrung von Frauen im ökonomischen Bereich und der Förderung von wirtschaftlichen Rechten von Frauen. Wie es Frauen gelungen ist, im Verlauf des Arabischen Frühlings eine Allianz zu bilden, um gemeinsame Forderungen bezüglich der neuen Verfassung zu formulieren, haben wir am Beispiel von Tunesien gehört. Die Vertreterinnen aus Rojava wiederum haben erzählt, wie es ihnen gelungen ist, ein alternatives Modell aufzubauen. Frauen aus Palästina haben von ihrer Rolle im Widerstand gegen die Besatzung berichtet. Ägyptische Frauen wiederum haben von ihrem Kampf gegen sexualisierte Gewalt und der Rolle von Selbstverteidigung erzählt.
Der zweite Tag der Konferenz stand ganz im Zeichen von gemeinsamer Organisierung als primärem Lösungsansatz. Auf drei verschiedenen Workshops wurde den Fragen nachgegangen, was uns Frauenorganisationen aus der MENA-Region daran hindert, gemeinsam zu kämpfen, wie ein Gleichgewicht zwischen lokalen und regionalen Kämpfen hergestellt werden kann und welchen Prinzipien und Zielen eine regionale Allianz folgen sollte. Lebendig und zielgerichtet haben die Teilnehmerinnen der Konferenz sowohl Schwierigkeiten identifiziert als auch gemeinsam an Lösungsansätzen gearbeitet. Im weiteren Verlauf der Konferenz sind Ergebnisse der Workshops präsentiert worden. Auf einem weiteren Panel wurden die Ergebnisse der zweitägigen Diskussionen herausgearbeitet und die wichtigsten Feststellungen hervorgehoben. Anschließend ging es um die Zukunft und es wurde gemeinsam diskutiert, wie es nach der Konferenz weitergehen soll.
Eine gemeinsame Organisierung als Voraussetzung für den gemeinsamen Kampf
Denn das ist die wichtigste Herausforderung und der größte Selbstkritikpunkt gewesen. Auf der ersten Konferenz 2013 war zwar eine Koordination gegründet worden, um die Umsetzung der Beschlüsse der Konferenz zu verfolgen. Jedoch ist diese nicht funktionell gewesen und nach einiger Zeit auseinandergefallen. Bei der zweiten Konferenz ging es darum, die Gründe hierfür zu analysieren und denselben Fehler nicht zu wiederholen. Denn alle Teilnehmerinnen waren sich ausnahmslos einig, dass die Frauen in der MENA-Region für wahre Demokratie, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit gemeinsam kämpfen müssen und hierfür Organisierung notwendig ist – allein eine Koordination ist nicht ausreichend. Damit eine Koordination Funktionalität gewinnt, bedarf es eines Unterbaus, dessen Zusammenarbeit zu koordinieren ist. Die Teilnehmerinnen der Konferenz einigten sich darauf, dass eine Allianz diesen Unterbau darstellen soll. Und so wurde in Beirut die Gründung der Demokratischen Allianz der MENA-Frauen verkündet. Durch diese Allianz soll der gemeinsame Kampf der Frauen aus dem Mittleren Osten und Nordafrika für Befreiung, Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit gestärkt und organisiert werden.
Diese Allianz hat sich zum Ziel gesetzt, gegen jegliche Form von Feminizid und Besatzung gemeinsam zu kämpfen. Neben patriarchalen Angriffen auf Frauen sieht die Allianz es als ihre Hauptaufgabe an, gegen Krieg, Vertreibung, Armut, politische Morde, die Zerstörung von Natur für Profit und jegliche Art von Ungleichheit anzugehen. Nationalismus, Sektierertum und Sexismus sollen aktiv bekämpft werden. Zugleich sollen die Beziehungen zwischen fortschrittlichen Frauengruppen und -bewegungen gestärkt werden. Denn während der Konferenz ist uns aufgefallen, dass obwohl wir Frauen aus der MENA-Region ein gemeinsames Identitätsverständnis haben, welches vor allem auf Kultur basiert, wir uns eigentlich gegenseitig nicht gut kennen. Einerseits ist notwendig, dass wir das uns Einende bewusst identifizieren und definieren. Andererseits besteht das Bedürfnis, über unsere eigenen Grenzen hinweg die Lage und die Kämpfe von Frauen in der Region besser kennenzulernen. Zwar sind die Frauen aus dem arabischen Raum stärker über die Situation in den jeweiligen Ländern informiert, was auch an einer gemeinsamen Sprache liegt, jedoch kannten viele nicht die wichtigen Errungenschaften der Frauen in Rojava oder in der Türkei. Das hat uns gezeigt, wie dringend notwendig der Aufbau eines gemeinsames Netzwerks für Informationsaustausch und Kommunikation ist. Das wäre dann eine weitere Aufgabe der Allianz.
Die Allianz selbst soll in einer sechsmonatigen Phase aufgebaut werden. Die Teilnehmerinnen aus den einzelnen Ländern haben jeweils eine Vertreterin bestimmt, die zusammen ein Komitee bilden, welches in den sechs Monaten nach der Konferenz, also bis Januar 2022, entsprechend den Diskussionen und Beschlüssen die Ziele, die Arbeitsweise, den Strategieplan und insgesamt die Perspektive der Allianz ausarbeiten und verschriftlichen soll. Die Ergebnisse der Workshops stellen hierfür eine wichtige Grundlage dar. Aber natürlich wird es nicht möglich sein, innerhalb von wenigen Monaten alles festzulegen und für alle Probleme Lösungen zu finden. Denn erst in der Zusammenarbeit werden wir konkret auf Schwierigkeiten treffen. In der Auseinandersetzung mit diesen werden wir unser gemeinsames Modell aufbauen.
Das stellt ein anderes wichtiges Ziel der Allianz dar: eine Form der Zusammenarbeit und Koordination zu finden, die auf einem optimalen Gleichgewicht zwischen lokal und regional basiert. Hinzu kommt als dritte Dimension die Beziehung zu weltweiten Frauenkämpfen bzw. der globalen Frauenbewegung. In diesem Sinne ist eine dialektische Organisationsform notwendig, die die Balance zwischen lokal, regional und international fördert. Das ist eine Herausforderung, für deren Lösung es keine fertigen Rezepte gibt. Auch aufgrund der krisen- und konfliktreichen Situation in der MENA-Region sind Frauengruppen oft auf ihre lokalen Agenden fokussiert. Dies jedoch stellt zumeist ein Hindernis vor gelebter Solidarität und gemeinsamem Kampf dar. Daneben stellt sich die Frage, wo sich in der globalen Frauenbewegung die Kämpfe im Mittleren Osten und Nordafrika verorten.
Jede Allianz ist zugleich auch ein Feld des politischen, ideologischen, sozialen und kulturellen Kampfes. Kampf nicht im Sinne von gegeneinander, sondern miteinander, um etwas Neues aufzubauen. Auch in unserer Region werden wir Frauen von der kapitalistischen Moderne negativ beeinflusst und so voneinander getrennt. Vor allem Nationalismus und Sektierertum, neben Sexismus und Szientismus, die Hauptideologien des kapitalistischen Nationalstaats, reproduzieren auch unter Frauen Machtverhältnisse. Chauvinismus, Kemalismus, Islamismus etc. müssen deshalb v.a. aus Frauenperspektive ideologisch infrage gestellt, analysiert und angegangen werden, damit wir tatsächlich eine Einheit schaffen können. Jedoch müssen wir uns auch kollektiv darüber bewusst werden, welche Art von Einheit wir erstreben oder was wir unter Einheit verstehen. Denn neben vielen Gemeinsamkeiten gibt es auch Unterschiede. Wollen wir diese Unterschiede wirklich alle wegwischen, oder wollen wir eine Einheit der Verschiedenheiten aufbauen und wenn ja, wie ist das sowohl theoretisch als auch praktisch überhaupt möglich?
Eine demokratische Allianz zur Überwindung der kapitalistischen Moderne
Es zeigt sich, dass es beim Aufbau von demokratischen Allianzen nicht nur darum geht, dass verschiedene Organisationen zusammenkommen und entsprechend gemeinsamen Zielen gemeinsame Aktionen durchführen. Es geht zugleich – und sogar noch stärker – darum, ein demokratisches System aufzubauen, das transformativen Charakter hat, indem es die politische Kultur umwandelt. In diesem Sinn ist die demokratische Allianz der Ort, wo Frauen patriarchal-kapitalistische Ideologien nicht nur nach außen, sondern vor allem im eigenen Innern herausfordern und bekämpfen. Das ist im Mittleren Osten und in Nordafrika umso wichtiger, da die kapitalistische Moderne hier seit über 200 Jahren auf systematische Weise zerstückelt. Diese Zersplitterung führt zu einer ständigen Reproduktion von Gewalt, Konflikt und Krise. Sie zu überwinden bedarf einer demokratischen Einheit, die keine Machtverhältnisse reproduziert oder neu herstellt. Insofern ist der Aufbau einer demokratischen Allianz der Frauen im Mittleren Osten und in Nordafrika von strategischer Bedeutung und Teil des sowohl regionalen als auch weltweiten Kampfes gegen die kapitalistische Moderne.
Zweifellos sind Konferenzen für Wissens- und Bewusstseinsbildung von großer Bedeutung. Aber wichtiger ist, was nach der Konferenz geschieht. Oft wird die Veranstaltung einer Konferenz selbst als Ziel gesehen. Jedoch sind Konferenzen doch eher Mittel zum Zweck. Ziel bei der Ausrichtung der 2. Konferenz der MENA-Frauen ist gewesen, den Grundstein für eine demokratische Allianz zu legen, um den gemeinsamen Kampf gegen jegliche Form von Gewalt und für die Verwirklichung von Freiheit und Gerechtigkeit zu organisieren und zu koordinieren. Der Beschluss hierfür ist gefasst und der Prozess hat begonnen. Ein Komitee mit Vertreterinnen all der Länder, die auf der Konferenz präsent waren, arbeitet momentan die Prinzipien und Zielsetzungen der demokratischen Allianz aus. Diese wird nicht auf die Frauenorganisationen, die auf der Konferenz vertreten waren, begrenzt bleiben, sondern wachsen. Dieser Prozess ist mindestens so aufregend wie die Konferenz selbst.
[‚MENA: Middle East & North Africa‘]