Wie kann die Zivilgesellschaft Deutschlands ein demokratisches und friedliches Projekt für Deutschland und Europa entwickeln, das sich moralisch-politische Prinzipien zur Grundlage nimmt?
Deutschland ist tiefer in die globale politische, wirtschaftliche, soziale und militärische Krise verwickelt, als manch einer wahrhaben möchte. Verfolgt man die Debatten im Land, entsteht der Eindruck, dass bei weiten Teilen der bundesdeutschen Zivilgesellschaft ein Bewusstsein für die Tragweite der globalen Krise und die Verwicklung Deutschlands nur sehr schwach ausgeprägt ist. Während deutsche Staats- und Regierungsvertreter unter der Losung »neue deutsche Verantwortung« seit spätestens 2013 eine klare Strategie globaler Machtansprüche verfolgen, bleibt eine gesellschaftliche Antwort aus, die den Gefahren eines deutschen Machtstrebens in Europa und darüber hinaus gerecht wird. Bürgerinitiativen, zivilgesellschaftliche Vereine, Stiftungen, Gewerkschaften, die Kirche, politische Parteien oder Medien werden daher so schnell wie möglich eine gesellschaftliche Diskussion darüber anstoßen müssen, welche Rolle Deutschland im 21. Jahrhundert in Europa und weltweit spielen soll. Konkret bedeutet das, eine demokratische und friedliche Vision für Deutschland und Europa zu entwickeln und praktisch werden zu lassen – und damit ein Gegengewicht zu dem Programm »neue deutsche Verantwortung«, das bereits heute deutsche Innen- und Außenpolitik immer kriegerischer, kompromissloser und menschenverachtender auftreten lässt.
Der Sprung aus dem Schatten der USA
Globale Großmachtphantasien der deutschen Eliten sind älter als der deutsche Nationalstaat selbst. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts träumte man hier zu Lande von einem deutsch dominierten Europa, mit dessen Hilfe man in Konkurrenz zu Großbritannien zu einer Weltmacht werden wollte. Zwei verlorene Weltkriege später war man vorerst dazu gezwungen, sich im Schatten der USA einzuordnen und wieder zu Kräften zu kommen. Mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus und dem dadurch entstandenen Machtvakuum weltweit wurden keine fünfzig Jahre später auch deutsche globale Machtbestrebungen wieder lebendig. Das wiedervereinte Deutschland machte sich mehr oder weniger direkt daran, in Ost- und Südosteuropa die eigene Dominanz durchzusetzen. In Serbien war man dafür zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wieder bereit, die Bundeswehr im Ausland Krieg führen zu lassen. Aber auch für den Mittleren Osten – vom Maghreb bis nach Pakistan – zeigt die bundesdeutsche Politik großes Interesse. Grund dafür sind neben dem Ressourcenreichtum und den potentiellen Absatzmärkten für deutsche Produkte auch die geostrategische Bedeutung der Region. Bei der Durchsetzung deutscher Machtinteressen nahm man seit Anfang der neunziger Jahre auch Konflikte mit engen Verbündeten wie Frankreich und England, aber auch den USA in Kauf.
Mit einer gezielten Öffentlichkeitskampagne von Außenministerium und Bundespräsidialamt wurde 2013 der Gesellschaft präsentiert, was Jahre zuvor bereits durch Debatten außenpolitischer, militärischer und wirtschaftlicher Führungskräfte vorbereitet worden war: das Programm »neue deutsche Verantwortung«. Seither bewegt sich Deutschland mit großen Schritten aus dem Schatten der US-Politik heraus. Das Mittel dafür ist altbewährt: Der Hauptpfeiler des globalen Machtstrebens Deutschlands ist eine global konkurrenzfähige EU, die sich gemäß deutschen Interessen positioniert, und zwar auf so unterschiedlichen Feldern wie Wirtschaft, Außenpolitik, Militär, Kultur oder Sozialem. Jüngstes Beispiel dafür ist der diplomatische Vorstoß aus Berlin, eine eigene Marinemission im Persischen Golf zu organisieren – in offener Abgrenzung zu ähnlichen Plänen aus den USA. Ähnlich kann auch die Ablehnung Deutschlands gedeutet werden, sich an einer Militärmission in Nordsyrien unter US-Leitung mit Bodentruppen zu beteiligen. Die bundesdeutsche Politik will globale Machtpolitik betreiben – und zwar möglichst weitreichend zum eigenen Vorteil.
Dimensionen »neuer deutscher Verantwortung«
Die Folgen für die Gesellschaft Deutschlands sind weitreichend. Neben einem stetig wachsenden Anteil gesellschaftlichen Reichtums, der für militärische Zwecke bereitgestellt wird, bedarf es insbesondere einer gesellschaftlichen Stimmung, die bereit ist, deutsche Interessen global in den Vordergrund zu stellen. Nationalismus, Militarismus oder Sexismus werden in diesem Zusammenhang von verschiedensten Kreisen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien bewusst angeheizt. Und auch liberale Diskurse, in denen die deutsche Verantwortung für Demokratie und Wohlstand in der Welt beschworen wird, bezwecken letztendlich die Durchsetzung deutscher Großmachtphantasien. Die bundesdeutsche Politik- und Medienlandschaft tritt in dieser Frage immer geschlossener und selbstbewusster auf.
Was einer umfassenden Diskussion bedarf, soll an dieser Stelle nur angedeutet werden. Denn die Dimensionen »neuer deutscher Verantwortung« erstrecken sich von militärischen über wirtschaftliche bis hin zu sozialen Aspekten. Im militärischen Bereich, der aus den oben genannten Gründen eng mit der sozialen Stimmung im Land verbunden ist, lassen sich sieben wichtige Bereiche nennen, die für die Durchsetzung globaler Machtbestrebungen Deutschlands zentral sind:
1.) Deutschland fungiert als NATO-Drehkreuz und nutzt damit seine geostrategische Lage im Herzen Europas, um die eigene Machtposition zu stärken. Ob zehntausende US-amerikanische Soldaten auf bundesdeutschem Gebiet, die Lagerung US-amerikanischer Atomwaffen oder die Koordinierung von NATO-Truppenverlegungen nach Osteuropa – bundesdeutsche Politik positioniert sich damit als unabdingbarer Bestandteil militärischer Pläne westlicher Militärbündnisse.
2.) Insbesondere die verschiedenen Merkel-Regierungen verfolgen seit Jahren eine Waffenexportpolitik, mit der eigene Bundeswehreinsätze zum Teil überflüssig gemacht werden und die Kooperation ausländischer Regierungen gesichert wird. Ganz oben auf der Liste stehen faschistische Regime wie die Türkei oder Saudi-Arabien, aber z. B. auch die algerische Regierung, die sich seit Monaten mit Protesten der Bevölkerung konfrontiert sieht. Die Besetzung des vorwiegend kurdisch besiedelten Kantons Efrîn in Nordsyrien mithilfe deutscher Leopard-Panzer und G3-Gewehre zeigte Anfang 2018, wozu Partner wie die Türkei durch deutsche Waffen in die Lage versetzt werden.
3.) Als Ergänzung zu milliardenschweren Waffengeschäften ist die Bundeswehr seit 1999 mit tausenden Soldaten weltweit an Kriegen beteiligt. Afghanistan, Mali, Libanon, Jordanien, der Balkan, Syrien, der Irak oder das Südchinesische Meer sind nur einige der Einsatzgebiete. Auffällig ist, dass in den Einsatzgebieten der Bundeswehr auch nach mehrjährigen Operationen keine Stabilität eintritt, geschweige denn demokratische Verhältnisse. Die Aufgabe deutschen Militärs scheint mehr die Steigerung des außenpolitischen Gewichts Deutschlands zu sein, als gesellschaftliche Konflikte im Ausland zu lösen.
4.) Auch innenpolitisch zeigen sich deutliche Folgen. Die Steigerung militärischer Ausgaben auf ca. siebzig Milliarden Euro in den nächsten Jahren ist erklärtes Ziel bundesdeutscher Politik. In der Öffentlichkeit und in Schulen wirbt die Bundeswehr mit professionellen Imagekampagnen für den Kriegsdienst. Weite Teile deutscher Staats- und Regierungsvertreter scheinen sich als Ziel für die nächsten Jahre auf eine militärisch schlagkräftige Bundeswehr und ein gesellschaftliches Klima geeinigt zu haben, das Krieg im Interesse Deutschlands gutheißt. Eine materiell und ideell militarisierte Gesellschaft wird die Folge sein.
5.) Auch bedeutende Teile des deutschen Wissenschaftsbetriebs beteiligen sich aktiv an der Umsetzung der Doktrin »neue deutsche Verantwortung«. Zahlreiche Universitäten verweigern sich trotz langanhaltender Proteste konsequent einer Zivilklausel. Dies ermöglicht ihnen, militärische Forschungsaufträge u. a. von der Bundeswehr anzunehmen. Grundlagenforschung für die technische Überlegenheit deutscher Kriegstechnik gehört damit zum Alltag der deutschen Universitätslandschaft.
6.) Die deutsche Bundeswehr, aber auch die Polizei sind in zahlreichen europäischen und außereuropäischen Ländern an Ausbildungsmissionen für den dortigen Repressionsapparat beteiligt. Neben dem Training von Aufstandsbekämpfung und auf ähnlichen Feldern wird bereitwillig das materielle Equipment dazu verkauft, offensichtlich ohne ein allzu großes Augenmerk auf die Verhältnisse in den jeweiligen Ländern zu legen.
7.) Rüstungsprojekte auf europäischer Ebene werden von deutschen Staats- und Regierungsvertretern offensiv gefördert. Gemeinsam mit Frankreich und anderen europäischen Ländern läuft z. B. derzeit ein auf mehrere Jahre angelegtes und ca. hundert Milliarden Euro umfassendes Projekt, in dessen Rahmen die nächste Generation eines europäischen Kampfjets entwickelt und gebaut werden soll. Damit würde der Eurofighter von einem Verbund aus modernem Kampfflugzeug, Drohnen und Drohnenverbänden abgelöst. Außenpolitische und militärische Verantwortungsträger aus Deutschland diskutieren zudem zunehmend darüber, die französischen Atomwaffen zu europäisieren. Das würde letztendlich bedeuten, dass Deutschland Zugriff auf Atomwaffen bekäme, die man sicherlich gerne mit europäischem Siegel für deutsche Interessen einsetzen würde.
Die vielfältigen Maßnahmen auf dem Feld von Militär und Polizei begleitend nutzt die deutsche Außenpolitik traditionell Stiftungen und wirtschaftslobbyistische Verbände für die Durchsetzung eigener Interessen. Das ist insbesondere kulturell und sozial interessant, ist man sich doch des Umstandes bewusst, dass militärische Maßnahmen allein kostspielig und riskant sind. Über Institutionen wie das Goethe-Institut oder Parteistiftungen wie die Friedrich-Naumann-Stiftung kann man kontinuierlich und ohne viel Aufmerksamkeit politische Kreise im Ausland unterstützen, die man in das eigene Großmachtstreben einbinden will. Ob Wirtschaftsdelegationen nach Brasilien unter Bolsonaro oder Friedrich-Naumann-Delegationen in das von Protesten erschütterte Hongkong – die deutsche Außenpolitik weiß, wie man leise und zielgerichtet Einfluss nehmen kann.
Neuer gesellschaftlicher Protest gegen einen alten Traum des deutschen Staates
»Neue deutsche Verantwortung« bedeutet, Deutschland in der Welt eine Stellung zu erkämpfen, die Staat und Wirtschaft möglichst viel Macht und Profit sichert. Die oben nur kurz angedeuteten Mittel zur Realisierung dieses Projekts verdeutlichen, dass dieser Plan auf dem Rücken der Gesellschaft in Deutschland umgesetzt wird. Seit Anfang der neunziger Jahre findet mit aller Heftigkeit eine globale Krise statt, in deren Rahmen politische und wirtschaftliche Einflussbereiche weltweit neu aufgeteilt werden und in der letztendlich die Krise der kapitalistischen Ordnung ihren Ausdruck findet. Es liegt in der Natur staatlichen Machtdenkens, diese Neuordnung der Verhältnisse für die Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen. Ein Staat wie der deutsche, der seit seiner Gründung Großmachtphantasien hegt, tritt in solchen Zeiten besonders aggressiv auf. »Neue deutsche Verantwortung« ist die Losung der dazugehörigen Imagekampagne. Bleibt gesellschaftlicher Widerstand dagegen aus oder zu schwach, darf befürchtet werden, dass Deutschland düstere Jahrzehnte erwarten, deren Tragweite auch Profis aus der Werbe- und Medienbranche nur schwer kaschieren können. Es stellt sich daher die Frage: Wie kann die Zivilgesellschaft Deutschlands ein demokratisches und friedliches Projekt für Deutschland und Europa entwickeln, das sich moralisch-politische Prinzipien zur Grundlage nimmt? Während Staaten und Regierungen traditionell eher eigene Macht- und Profitinteressen in den Vordergrund stellen und zu deren Durchsetzung auch vor dem Einsatz von Gewalt und Manipulation nicht zurückschrecken, liegt es im Interesse der Zivilgesellschaft, Werten wie Demokratie, Frieden und Vielfalt den Vorzug zu geben. Die deutsche Zivilgesellschaft trägt aufgrund der traditionell aggressiven Machtpolitik des deutschen Staates eine besonders große Verantwortung für die Umsetzung dieser Werte in Europa und weltweit. Positiv ausgedrückt: Die immense europäische und globale Bedeutung Deutschlands kann von der Zivilgesellschaft genutzt werden, um Moral, Demokratie und Politik in Einklang miteinander über die Grenzen des eigenen Landes hinaus zu einem Gegenmodell zu staatlicher Macht- und Kriegspolitik zu machen. Dafür müssen die verschiedenen demokratischen Kreise im Land zusammenkommen, ein gemeinsames Verständnis der historischen Phase und der politischen Verhältnisse entwickeln und sich auf gemeinsame taktische und strategische Ziele einigen. Essentiell für ein Zusammenkommen wird sein, dass weite Teile der Gesellschaft einsehen, wie gefährlich, menschenverachtend und egozentrisch die Strategie »neuer deutscher Verantwortung« ist; und zwar für die deutsche und andere Gesellschaften. Durch gemeinsame Kongresse, Proteste und den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen wird die Gesellschaft hier zu Lande in die Lage versetzt werden, Verantwortung für sich, Europa und die Welt zu übernehmen – und damit staatliches Großmachtstreben mit seinen verheerenden Folgen aktiv zu verhindern.