Radikale Demokratie in der Praxis

Der Artikel „Demokratischer Konföderalismus und seine Praxis“ von Michael Knapp zielt darauf ab, das Konzept des Demokratischen Konföderalismus in den kurdischen Gebieten der Türkei und Syriens als ein Konzept des Zusammenlebens und der Basisdemokratie vorzustellen. Ausgehend von einer Diskussion über die Auswirkungen des Nationalstaates im Nahen Osten soll ein Hintergrund für die theoretische Entwicklung des Demokratischen Konföderalismus erarbeitet werden. Der Autor wird zeigen, dass das vom inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan entwickelte Konzept des Demokratischen Konföderalismus einerseits von der sozialen Realität des Nahen Ostens und seiner Geschichte inspiriert ist, andererseits von Kommunalisten wie Murray Bookchin und Anhängern von Konzepten der direkten Demokratie und Rätedemokratie wie Hannah Arendt und Rosa Luxemburg. Der Autor wird in dem Artikel den Unterschied zwischen staatsorientiertem Föderalismus und Konföderalismus aufzeigen. Um den Unterschied zwischen diesen beiden Punkten zu erklären, wird der Autor die Rolle des Nationalstaates und die Staatskritik der kurdischen Bewegung sowie ihren historischen Kontext im Nahen Osten darstellen. Die Basisdemokratie, die in Rojava/Nordsyrien aufgebaut wird, wird als Konsequenz aus dieser Kritik vorgestellt.

Einleitung

Die Begriffe „Rojava“ und “ Kobanî“ waren bis zum Herbst 2014 weithin unbekannt. Das änderte sich als mit dem erbitterten Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat (IS) nicht nur die Begriffe, sondern auch Bilder von Kämpferinnen, die gegen die schlimmste Form des Terrors kämpfen, in das öffentliche Bewusstsein drangen. Während diese Bilder ausgestrahlt wurden, blieb die Ideologie hinter diesen im Nahen Osten auftauchenden Kämpferinnen im öffentlichen Diskurs weitgehend im Dunkeln. Wo die Ideologie der PKK analysiert wurde, da geschah das meist unter dem Gesichtspunkt der Terrorismusbekämpfung. Jongerden und Akkaya haben diese Lücke mit ihrer Analyse der Geschichte und Ideologie der PKK im Kontext des Kemalismus in der Türkei geschlossen. Sie verwendeten eine Mischung aus Interviews und der Analyse der Schriften des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan.

Für diesen Artikel arbeitete der Autor mit den Gefängnisschriften von Abdullah Öcalan, mit Erklärungen der Organe der PKK und vor allem mit Daten, die er bei seinen Recherchen in Rojava sammelte – durch Interviews mit Personen auf allen Stufen des Systems der demokratischen Autonomie und durch teilnehmende Beobachtung bei Ratssitzungen, öffentlichen Diskussionen und anderen Gelegenheiten. Die Erfahrungen mit demokratischem Konföderalismus im Nahen Osten werden mit dem internationalen Diskurs über Rätedemokratie verknüpft.

Der Artikel besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen; im ersten Teil werden die Auswirkungen der nationalistischen Ideen auf den Nahen Osten kurz beschrieben. Im zweiten Teil wird die Entwicklung der PKK und Abdullah Öcalans von einer „klassischen“ marxistisch-leninistischen Befreiungsbewegung zu einer Ideologie der radikalen Demokratie aufgezeigt. Der dritte Teil stellt das Konzept der radikalen Demokratie und der demokratischen Autonomie im Kontext seiner Praxis in Rojava vor. Diese Diskussion wird mit der politischen und philosophischen Debatte über Modelle von Räte- oder Radikaldemokratie und historischen Erfahrungen verknüpft.

Demokratischer Konföderalismus als Modell der radikalen Demokratie in der Praxis

Nach der Zerschlagung des Staatssozialismus Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts versuchten die Verfechter des Kapitalismus und des Neoliberalismus, diesen als alternativlos darzustellen. Margaret Thatchers Slogan TINA „There is no alternative“ schien sich für viele bewahrheitet zu haben. Selbst in den libertären Kreisen, die nie eine enge Beziehung zum Staatssozialismus hatten, spiegelte sich diese Entwicklung in einer spürbaren Renaissance „anarchokapitalistischer“ Ideen oder einem Rückzug ins Private wider. Die traditionelle Linke in Europa erlebte einen schweren Rückschlag, während in Ländern wie Deutschland der Nationalismus im Diskurs um Staat und Wirtschaft an Bedeutung gewann. Es mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, dass sich Nationalismus und Neoliberalismus nach dem „Ende der Geschichte“ in einer Art Symbiose entwickelt haben. Doch mit dem Aufkommen von Argumentationen, in denen der Staat als Institution mehr und mehr durch die Konkurrenz mit anderen Staaten über seine Attraktivität für das „globalisierte“ Kapital durch niedrigere Löhne und weniger Schutz für die Arbeitnehmer definiert wurde, wurde klar, dass es kein Widerspruch ist. Ludwig Hirsch nannte die Verschmelzung von Neoliberalismus und Nationalismus den „nationalen Wettbewerbsstaat“. In ihm werden nach Hirsch alle Teile der Gesellschaft dem Paradigma der Fähigkeit zum nationalen Wettbewerb unterworfen.

Diese Krisensituation für sozial-emanzipatorische Ideen und Bewegungen hatte das Potential, zu einer Chance für eine kritische Reflexion über die Instrumente der sozialen Befreiung, wie den Marxismus-Leninismus und die Konzepte der nationalen Befreiungskämpfe zu werden.
Nicht viele Befreiungsbewegungen überlebten diesen entscheidenden historischen Prozess, und neue Akteur:innen erschienen auf der Bühne der Geschichte – das Auftauchen der zapatistischen Bewegung in Chiapas in Mexiko am ersten Januar 1994 war eines der ersten Anzeichen dieses Paradigmenwechsels in revolutionären Bewegungen weltweit. Ihr Konzept der nationalen Befreiung, das sich im Akronym EZLN widerspiegelt, unterschied sich entscheidend vom Modell des Nationalstaates – so basiert es ausdrücklich auf Differenz und radikaler Demokratie in der Versammlungsstruktur. Es basierte auf der Grundlage der indigenen Gesellschaften von Chiapas und deren Formen der Selbstvertretung. Das Modell der EZLN basiert auf der Ermächtigung und Emanzipation der Landbevölkerung in Form von Versammlungen.

Während dies für viele Linke in Europa, den USA und Australien ein weithin unerkanntes Zeichen der Hoffnung war, unternahm eine andere Bewegung im Nahen Osten ihre Schritte in Richtung radikaler Demokratie und noch tieferer Kritik am Nationalstaat als die EZLN. Heute sehen wir in den hauptsächlich kurdischen Regionen im Nahen Osten, insbesondere in Nordsyrien/Rojava und in der Osttürkei/Bakur ein Modell radikaler Demokratie, das sich als Folge des 40-jährigen Kampfes der Arbeiter:innenpartei Kurdistans (PKK) weit verbreitet. Um zu verstehen, wie es sich entwickelt hat müssen wir den Wandel einer klassisch marxistisch-leninistische nationalen Befreiungsbewegung zu einer kommunalistischen und antistaatlichen Bewegung verstehen. Dazu müssen wir uns mit der Geschichte der Bewegung und des Nahen Osten sowie seinen jüngsten Krisen auseinandersetzen.

Die Entwicklungsgeschichte des modernen Nationalstaates geschah im 18. Jahrhundert auf Basis der Schaffung von Märkten und Infrastruktur für die sich erweiternde Kapitalakkumulation. Der Nationalstaat gab dem Kapital die Möglichkeit zur militärischen Expansion und insbesondere zum Aufbau von Kolonien, was in der Entstehung des Imperialismus mündet. Die europäischen Nationalismus basieren auf der ideologischen Verschmelzung von Ethnos und Demos. Manchen Spielarten des Nationalismus, wie beispielsweise der deutsche, definierten sich eher biologistisch und über eine negative Integration – also den Ausschluss von abweichenden Identitäten. Andere eher über Modelle der Assimilation, Homogenisierung und Zentralismus wie das beispielsweise beim französischen Nationalismus der Fall war.

Die Gründung von Nationalstaaten im Nahen Osten wurde mit dem Sykes-Picot-Vertrag von 1916 vorgezeichnet, der den Nahen Osten entlang britischer und französischer Interessen aufteilte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 und der Niederlage des Osmanischen Reiches an der Seite der Mittelmächte gewann die Gründung von Nationalstaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches an Dynamik.

Das Osmanische Reich mit seiner islamisch-religiösen Legitimationsideologie unterschied sich insofern vom europäischen Modell, als es in feudaler Weise durch mehr oder weniger autonome regionale Eliten herrschte. Das europäische Modell wirkte sich bereits im 19. Jahrhundert durch die Tanzimat-Reformperiode von 1839-1876 auf die Region aus, die eine französisch inspirierte Form des Zentralismus zu etablieren versuchte und zu Aufständen insbesondere in den kurdischen Emiraten führte, deren autonome Privilegien abgeschafft worden waren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts übernahm die Bewegung des Komitees Für Fortschritt und Einheit mit ihrem Hang zum Positivismus rassistische Ideologien wie den Turanismus. Der Turanismus entwickelte sich parallel zum „wissenschaftlichen“ Rassismus, der sprachliche Kategorien wie „arische“ oder alto-uigurische Sprachen in eine „ural-altaische Rasse“ umwandelte. Der Turanismus schuf die ideologische Grundlage für die engen Verbindungen zum Deutschen Reich und die Kollaboration bis hin zum Völkermord an 1,5 Millionen Armenier:innen 1914-16. Das zeigt, wie eng das Entstehen des türkischen Nationalismus mit dem sich im 19. Jahrhundert in Europa entwickelnden ethnischen Nationalismus und insbesondere mit den Rassentheorien verbunden ist. Diese Theorien wiederum boten auch die Legitimation für ökonomische und politische Expansion. Ein Beispiel, das diese Zusammenhänge gut aufzeigt, ist die Bagdadbahn, die unter deutscher Leitung gebaut wurde. Beim Bau kamen auch armenische Zwangsarbeiter:innen zum Einsatz. Es sind die Gleise der Bagdadbahn, die bis heute Teile der Grenze zwischen der Türkei und Syrien markieren.

Der türkische Befreiungskrieg führte1923 zur Gründung der türkischen Republik und wurde von weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung unterstützt. Die neue Republik entwickelte sich bald zu einem monistischen, turanistischen Nationalstaat, der keine andere Identität als die türkische und sunnitische akzeptierte. Während das osmanische Kurdistan und das persische Kurdistan bereits seit der Schlacht von Caldiran im Jahr 1514 geteilt waren, wurden die Grenzen zwischen Nordkurdistan (Türkei) und Westkurdistan (Rojava) 1916 von den Mandatsmächten gezogen. Das heutige Syrien stand bis zu seiner formellen Unabhängigkeit im Jahr 1946 unter französischer Herrschaft. Die Errichtung der nationalen Grenzen spaltete die kurdische Bevölkerung und auch ganze Städte: Die mehrheitlich kurdische Stadt Nusaybin wurde auf syrischer Seite zur Stadt Al Qamishli (gegründet 1926), Serê Kaniye wurde zu Ras Al Ayn in Syrien und Ceylanpinar in der Türkei (geteilt 1918).

Infolge der Blockkonfrontation zwischen dem NATO-Mitglied Türkei und dem sowjetischen Verbündeten Syrien wurde die Grenze zwischen den beiden Staaten mit Millionen von Minen versehen. Auf der türkischen Seite der Grenze wurde die Politik eines monistischen Nationalstaates etabliert und jede Identität, die von der türkische Identität abweicht, verfolgt. Kurdisch und sogar die Buchstaben „q,w,x“, die es im türkischen Alphabet nicht gibt, wurden verboten. Die Gründung der türkischen Republik wurde von Massakern an Kurd:innen und Asyrer:innen begleitet, wie dem Massaker von Dersim, bei dem 1938 zwischen 30.000 und 80.000 kurdische Alevit:innen getötet wurden.

Die Politik der Türkisierung spiegelt sich in der panarabischen Politik in Syrien und im Irak wieder, insbesondere unter den baathistischen Regimen, deren Konzept des panarabischen Nationalismus sich ebenfalls zu großen Teilen von europäischen Spielarten des Nationalismus ableitet. Es lässt sich festhalten, dass die kurdische Bevölkerung in allen Nationalstaaten, auf die sie aufgeteilt wurde, nationalistische Unterdrückung erfuhr – die Reaktionen darauf waren vielfältig.

Von der Gründung der PKK als marxistisch-leninistische nationale Befreiungsbewegung zum Paradigma der radikalen Demokratie

Während die kurdischen Bewegungen um die Barzani- und Talabani-Clans den Weg des kurdischen Nationalismus wählten, folgte die kurdische Bewegung in Nordkurdistan/Türkei, die PKK wurde 1978 gegründet, einem marxistisch-leninistischen Ansatz der nationalen Befreiung und des proletarischen Internationalismus jenseits nationaler Identität. Wir können dies auch an der langen internationalistischen Tradition der PKK sehen, und sogar einige der Gründer der PKK wie Haki Karer waren türkischer Herkunft und kämpften als Internationalisten gegen den Kolonialismus. Die PKK definierte 1977 in ihrem ersten Programm den Kolonialismus und die feudale Struktur der kurdischen Gesellschaft als ihren Hauptfeind. In diesem Programm definierte die PKK die kurdische Revolution als eine nationale und demokratische Revolution. Dabei lag der Fokus in dieser Zeit auf der nationalen Revolution, die die Basis für die demokratische und dann auch soziale Revolution bilden sollte.

Die PKK entstand vor dem Hintergrund weltweiter antiimperialistischer uns sozialistischer Kämpfe und vor dem Hintergrund der Student:innenbewegung der 60er und 70er Jahre in der Türkei. Sie entwickelte sich dialektisch zwischen der Student:innenbewegung und der kurdischen Bevölkerung. Viele Protagonist:innen der Linken in der Türkei waren kurdischer Herkunft, aber im allgemeinen Diskurs der türkischen Linken wurde Kurdischsein nicht als Faktor der sozialen Mobilisierung diskutiert. Der konfliktreichste Punkt spiegelte sich in der Frage wider, ob Kurdistan als Kolonie betrachtet werden kann. Die Hauptrichtung der Analyse in der türkischen Linken bestand darin, die Türkei als eine Kolonie des imperialistischen Westens zu interpretieren, und in diesem Sinne konnte eine Kolonie nicht ihre eigene Kolonie haben – die kurdische Frage wurde nicht nur vernachlässigt, sondern von vielen als eine Gefahr für eine sozialistische Mobilisierung gesehen, weil sie behaupteten, dass die Anerkennung des Kurdentums die Arbeiter:innenklasse und das Land spalten und nur den imperialistischen Interessen dienen würde.

Inspiriert durch den antikommunistischen, von den USA unterstützten Militärputsch in Chile am 11.06.1973 ergriff das türkische Militär am 12. September 1980 nach Beratungen mit US-Beamten die Macht – der Putsch traumatisierte die gesamte Gesellschaft der Türkei und schaffte es, die große linke Bewegung in der Türkei zu zerschlagen. Berichten zufolge wurden zur Zeit des Putsches mehr als 650.000 Menschen verhaftet, viele verschwanden. Während sich die revolutionären Massenorganisationen auflösten und die meisten ihrer Organisationsstrukturen aufgaben, zogen sich mehr als 400 PKK-Kader:innen in den syrisch besetzten Libanon zurück und begannen, ihren bewaffneten Kampf gegen die Junta in der Türkei vorzubereiten.

In der Zwischenzeit gelang es den inhaftierten Aktivist:innen und Kadern der PKK, die Gesellschaft durch massive Protest- und Widerstandsaktionen zu mobilisieren. Die Selbstaufopferung zentraler Kader wie Mazlum Dogan hat bis heute Kultcharakter. So nahm die PKK am 15. August 1984 offiziell den bewaffneten Kampf in den kurdischen Provinzen der Türkei auf – und wurde innerhalb von zehn Jahren zu einer der stärksten Guerillakräfte weltweit mit zehntausenden Kämpfer:innen in ihren Reihen. Die Basen der PKK waren damals noch das baathistische Syrien und der besetzte Libanon, wobei sie den traditionellen Antagonismus zwischen Syrien und der Türkei und den Kalten Krieg mit dem sowjetischen Bruderland Syrien auf der einen und dem NATO-Mitglied Türkei auf der anderen Seite zum Vorteil ihres Befreiungskampfes nutzte. Die Duldung durch das syrisches Regime erschwerte dabei die Organisierung der kurdischen Bevölkerung in Syrien.

Daher ist diese Zeit sowohl von Diplomatie als auch von Repression durch das Baath-Regime geprägt – so gab und gibt es beispielsweise viele politische Gefangene aus der PKK in Syrien. Wie viele Zeitzeugen in Rojava berichten, begann die PKK ab den frühen 80er Jahren, die Kurd:innen in Syrien und insbesondere in der Region Rojava zu organisieren. Daher besteht in dieser Region ein hohes Bewusstsein für die Ziele und Methoden der PKK. Dies spiegelt sich insbesondere im Kontext der Frauenbefreiung und -ermächtigung wider, die mit den ersten Kontakten zur PKK in den 80er Jahren begann.

Der Kampf der PKK war bis 1993 darauf ausgerichtet, die Befreiung Nordkurdistans als ersten Schritt auf dem Weg zu einem zentralistischen, demokratischen, sozialistischen Staat Kurdistan zu unternehmen. Das Ziel eines befreiten Kurdistans war zwar kein nationalistisches Projekt, schließlich stützte sich die PKK auf den proletarischen Internationalismus, aber dennoch als Nationalstaat gedacht.

Parallel zum Zusammenbruch des Staatssozialismus konnte die PKK ein Machtgleichgewicht zwischen sich und den türkischen Streitkräften herstellen. Der türkische Staat reagierte auf die Stärke der kurdischen Freiheitsbewegung mit Terror gegen die Zivilbevölkerung und zerstörte mehr als 4.000 Dörfer. Da sich abzeichnete, dass keine der beiden Seiten den Krieg für sich entscheiden kann, erklärte die PKK 1993 ihren ersten einseitigen Waffenstillstand und forderte einen Bundesstaat mit autonomen Regionen. Schon vorher stand die PKK dem Staatssozialismus nach dem Vorbild des Ostblocks kritisch gegenüber und interpretierte die kurdische Frage als eine Frage der Demokratisierung der Gesellschaft. Insbesondere aufgrund der Diskussionen über die Gründe für das Ende des Staatssozialismus entwickelte Abdullah Öcalan eine radikale Kritik am Staatsmodell und begann, nach einer Lösung aus der Zivilgesellschaft heraus zu suchen. Parteien wie HEP und DEP wurden gegründet und begründeten die Tradition der kurdischen Parteien im türkischen Parlament.

In der Zwischenzeit schlossen sich Tausende von Frauen aus den Dörfern der Guerilla der ARGK, der nationalen Befreiungsarmee der PKK an. Frauen waren die Anführerinnen der Aufstände in Städten wie Cizre und anderen Orten. Durch ihren Einsatz schufen die Frauen auch in der eigenen Organisation mehr Bewusstsein für ihre Lage. In seiner Kritik griff Öcalan historische Diskurse über die Entstehung von Hierarchie und Staat auf und kam zu dem Schluss, dass die Durchsetzung des Patriarchats die Voraussetzung für den Aufbau staatsähnlicher Gesellschaften und Hierarchien gewesen sei. Mit dem Stellenwert dem er dem Patriarchat damit einräumt beginnt ein Prozess in dem die PKK das Patriarchat, und nicht mehr die nationale Frage, in den Mittelpunkt stellt. Frauen werden als Kolonie des Patriarchats definiert, ohne ihre Befreiung kann somit keine Befreiung der Gesellschaft erreicht werden.

In der Folge dieser Auseinandersetzungen enstanden Frauenorganisationen wie autonome Frauenguerillakräfte – dieses Konzept bildet die Grundlage für die Strukturen der Geschlechtergleichheit, die wir heute in Rojava beobachten können. Die PKK sieht die kurdische Frage nicht nur als eine nationale oder ethnische Frage, sondern als eine Frage der Befreiung der Gesellschaft. Die Waffenstillstände der PKK wurden bis heute von verschiedenen Kräften des türkischen Staates sabotiert, während die PKK seit 1993 stets versuchte, einen friedlichen, politischen Lösungsprozess zu etablieren.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion öffnete sich Syrien dem Neoliberalismus und zwang Abdullah Öcalan, das Land zu verlassen. Diese Entwicklung führte zu seiner Entführung und Inhaftierung im Ein-Personen-Gefängnis auf der Insel Imrali in der Türkei. Die Türkei stand am Rande eines Bürgerkriegs – aber auch hier strebten die Mehrheit der PKK und Abdullah Öcalan eine friedliche Lösung an, indem sie einen Waffenstillstand erklärten und die Guerilla aus der Türkei abzogen. Die Türkei akzeptierte diesen Schritt nicht, und mehr als 500 im Rückzug befindliche Guerillas wurden auf ihrem Weg aus der Türkei getötet.

In den folgenden Jahren stellte Öcalan das Modell des demokratischen Konföderalismus und der Autonomie als Lösungsprojekt für den gesamten Nahen Osten vor. Er setzte den in den frühen 90er Jahren begonnenen Prozess fort, das Konzept eines Systems jenseits von Nation und Staatlichkeit zu entwickeln. Abdullah Öcalan und die PKK gingen noch weiter und kritisierten die Verquickung von Nation und Staat sowie die parallele Verflechtung von Ethnos und Demos. Die Geschichte des Nahen Ostens wurde als Resultat von Nationalstaatlichkeit gesehen, was über die ohnehin bestehende Kritik der kolonialistischen Grenzpolitik von Sykes-Picot und Lausanne hinausging. Der Nationalstaat wurde allgemein als Quelle von Gewalt und Unterdrückung definiert.

Die Idee des Nationalstaates wurde in den Schriften von Abdullah Öcalan mit der Entwicklung der patriarchalen Ideologie verbunden. Der Kampf gegen eine androzentrische Gesellschaft ist mindestens seit Anfang der neunziger Jahre, mehr noch in den letzten Jahren, eine der zentralen Säulen der Ideologie und Praxis der PKK gewesen. Staatlichkeit, Kapitalismus und Nationalismus sind in den Augen von Abdullah Öcalan Ergebnisse des Patriarchats. Dies sind die Eckpunkte des neuen Konzepts des Demokratischen Konföderalismus, das Abdullah Öcalan um das Jahr 2000 entwickelte. Vor allem die antistaatlichen Paradigmen und die der Gleichberechtigung der Geschlechter begannen, einen großen Wandel in der kurdischen Gesellschaft zu bewirken.

Demokratischer Konföderalismus

Während in den frühen 90er Jahren der Schwerpunkt des Kampfes der kurdischen Bewegung auf der Schaffung befreiter Gebiete durch die militärische Vertreibung der türkischen Kräfte lag, liegt der Schwerpunkt nun im Konzept des demokratischen Konföderalismus und damit in der Stärkung der Zivilgesellschaft.

Es lassen sich zwei wesentliche Eckpunkte des radikaldemokratischen Projekts der PKK im Nahen Osten beobachten: Antinationalismus und Antietatismus. Die Kritikpunkte am Nationalstaat und an den repräsentativen Demokratiemodellen führen uns zu der Frage, wie ein fortschrittliches, auf Selbstbestimmung basierendes System konzeptualisiert und verwirklicht werden kann. Um dies zu verstehen, müssen wir die Traditionen betrachten, die sich im rätedemokratischen Modell der von Abdullah Öcalan inspirierten Bewegungen und dem Diskurs der PKK manifestieren. Wir können mindestens zwei Säulen definieren, auf denen das Modell des demokratischen Konföderalismus steht – zum einen die Tradition der Linken, die die PKK und ihre Ideologie mit den Diskursen der Befreiungsbewegungen, der feministischen Bewegungen weltweit verbindet, und zum anderen die Interpretation der mesopotamischen Geschichte und der Entwicklung der Gesellschaften Mesopotamiens als Medium der Emanzipation. Vor allem im westlichen Diskurs wird der zweite Punkt nicht ausreichend herausgearbeitet und das Konföderalismusmodell der PKK nur als libertärer Eklektizismus von Ideen aus Europa oder den USA interpretiert.

Abdullah Öcalan kritisiert das traditionelle marxistische Modell des historischen Materialismus als eurozentristisch, weil es die europäische Idee des Fortschritts verwendet, um den Status einer Gesellschaft auf den letzten Stufen bis zum Kommunismus zu definieren. Abdullah Öcalan lehnt den teleologischen Determinismus des historischen Materialismus ab – er stellt fest, dass der Ausgang der Kämpfe zwischen den Mächtigen und den Unterdrückten nie vorherbestimmt war, dass eine freie Gesellschaft zu jedem Zeitpunkt der Geschichte möglich gewesen ist und dass die kapitalistische Moderne nicht unvermeidlich war: „Die Entstehung von Hierarchie und Klassenherrschaft war nicht unvermeidlich, sondern das Produkt von Gewalt. Hierarchie und darauf aufbauend die Herausbildung von Staatlichkeit wurden durch den Einsatz von massiver Gewalt und Betrug durchgesetzt. Die wichtigen Kräfte der natürlichen Gesellschaft leisteten unermüdlich Widerstand und wurden immer weiter zurückgedrängt, ihr Raum wurde maximal reduziert. Doch Hierarchie und Klassenherrschaft konnten in einige Bereiche nie vordringen. Dennoch ist die Politik und Propaganda des herrschenden Systems in dem Maße erfolgreich gewesen, dass man die gesamte Gesellschaft ausschließlich aus Klassen- und Staatshierarchie gebildet sieht.“

Patriarchat und Klassenherrschaft haben die staatliche Gesellschaft hervorgebracht – aber die natürliche Gesellschaft hat nie aufgehört zu existieren sondern parallel und immer auch im Widerspruch zur staatlichen Gesellschaft existiert. Öcalan fasst die Geschichte der unterdrückerischen Kräfte mit dem Begriff Staatliche Zivilisation und die ihr widerstrebenden Kräfte mit dem Begriff Demokratische Zivilisation. Ihre Gegenwart bezeichnet er als Kapitalistische Moderne und Demokratische Moderne.

Während Kropotkin und Bookchin vom hellenischen und römischen Modell sprechen und die Athener Demokratie dem zentralistischen römischen Modell gegenüberstellen, schlägt Öcalan das Modell der Natürlichen Gesellschaft vor, eine Gesellschaft, in der Individuum und Kollektiv in einem Gleichgewicht existieren. In der Jungsteinzeit entstand um die Frau herum eine vollständige gemeinschaftliche Gesellschaftsordnung, der sogenannte „primitive Sozialismus“, eine Gesellschaftsordnung, die „keine der Durchsetzungspraktiken der staatlichen Ordnung kannte“ (Öcalan 2010: 9)

Wenn Öcalan den Begriff Natürliche Gesellschaft verwendet, bezieht er sich auf eine Gesellschaft ohne Warenproduktion und Entfremdung, die in gewisser Weise dem von Morgan und Engels eingeführten Begriff „Urkommunismus“ ähnelt, aber er kommt zu einem anderen Schluss als der historische Materialismus. Im marxistischen Modell musste der „Urkommunismus“ überwunden werden, um von anderen Gesellschaftsstufen, einschließlich der feudalen und kapitalistischen Gesellschaft, ersetzt zu werden, die wiederum dann die Arbeiter:innenklasse als Akteurin der Emanzipation hervorbringt. Marx selbst zeigt sich in dieser Argumentation flexibel und stellt mit Blick auf die kleinbäuerlichen Dörfer in Russland fest, dass das Stadium des Industriekapitalismus für eine sozialistische Revolution nicht zwingend notwendig ist, da die Strukturen der Allmende dort noch fortbestehen.

Dennoch behaupten viele traditionelle Marxist:innen, dass die Industrialisierung die Voraussetzung für eine sozialistische Revolution ist, da die Revolution nur von der Arbeiter:innenklasse ausgeführt werden kann. Daraus wir dann abgeleitet, dass der Nahe Osten „modernisiert“ werden muss, um ein bürgerliches System zu schaffen. Im Gegensatz dazu sieht Öcalan die Reste der „natürlichen Gesellschaft“ in den kollektiven und demokratischen Traditionen, die in einigen Teilen der nahöstlichen und insbesondere der kurdischen Gesellschaft noch existieren. Die Individualisierung in der mesopotamischen Moderne habe nicht in dem Maße stattgefunden wie in den modernen kapitalistischen Gesellschaften. In diesem Sinne geht Öcalans Modell des demokratischen Konföderalismus vom Status quo der Gesellschaft aus, indem es demokratische Traditionen wie kollektive Identitäten unterstützt und antidemokratische Konzepte wie Patriarchat, Sektierertum oder Feudalismus verwirft.

Diese Methode ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung für die aktuelle Situation in Rojava und in den anderen Teilen Kurdistans, die als klassische Kolonien ohne Arbeiter:innenklasse definiert werden können. Sie ist ein Faktor, der die PKK bis heute stärkt. Die Ablehnung des monistischen Nationalstaates bedeutet für die PKK die Schaffung eines Verwaltungsmodells, das auf Differenz und nicht auf Homogenität beruht. Das Modell des Demokratischen Konföderalismus wird nun seit mehr als zehn Jahren im türkischen Teil Kurdistans aufgebaut, aber durch massive Repression gegen zivile Strukturen wurde die Entwicklung des Systems in der Praxis immer wieder zurückgeworfen. Dennoch haben viele Städte in dieser Region eine starke Struktur von Institutionen der radikaldemokratischen Selbstverwaltung entwickelt, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind, wie die öffentliche Unterstützung von 80-90% in einigen kurdischen Städten bei Wahlen zeigt, und die einen starken Widerstand gegen Polizei- und Militäroperationen der türkischen Regierung leisten.

Die Situation für die Kräfte des demokratischen Konföderalismus änderte sich entscheidend, als die syrische Armee im Juli 2012 den Großteil ihrer Streitkräfte aus der nordsyrischen Region Rojava abziehen musste. Aufgrund der in Rojava praktizierten Politik des „dritten Weges“, die sich weder mit dem syrischen Staat noch mit der nationalistisch-arabisch und islamistisch dominierten Opposition verbündet, verlief dieser Prozess relativ friedlich. Die Volksräte in Rojava, die den Ideen des demokratischen Konföderalismus nahe standen, traten an die Öffentlichkeit und begannen mit dem Aufbau eines neuen Systems der Rätedemokratie.

Rätedemokratische Modelle haben eine lange Geschichte und Öcalan ist in seinem Denken sowohl von den gesellschaftlichen Traditionen der Mediation und Kollektivität in den mittelöstlichen Gesellschaften beeinflussten wie von den Beispielen von Rätedemokratie in Europa. Viele Schlussfolgerungen Öcalans sind eng mit Diskussionen verbunden die von Linken weltweit geführt wurden und werden. Theoretiker wie Michael Hardt und Antonio Negri begannen mit ihren Veröffentlichungen im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine ähnliche Idee der radikalen Demokratisierung der Gesellschaft zu konzipieren wie Öcalan. Auch sie radikalisierten den Begriff der Demokratie und schufen sie als Gegenmodell zu repräsentativen Systemen neu.

Spätestens seit der Pariser Kommune ist die Organisierung in Räten ein zentrales Thema der sozialistischen Bewegungen in Europa und Russland. Räte waren die Hauptakteure der revolutionären Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere in der russischen Revolution und den Aufständen in Deutschland 1918, als Arbeiter:innen und Soldaten die Vorhut des sozialistischen Projekts bildeten. Während Räte in Revolutionen in vielen Fällen eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, werden sie in fast allen Fällen neutralisiert, in einigen als Folge der Konsolidierung (Sowjetunion), in anderen als Folge der Konterrevolution (Pariser Kommune, Rätebewegung in Deutschland). Theoretisch können wir vielfältige Diskussionen über die Rätedemokratie verfolgen, die Hannah Arendt als „den verlorenen Schatz der Demokratie“ bezeichnet hat. Arendt sieht das Modell der Rätedemokratie als ein Modell, wie das Volk partizipieren kann, während repräsentative Modelle es ausschließen. Die spontane Bildung von Modellen der Rätedemokratie in revolutionären Zeiten ist nach Arendt ein Instrument, um die Heterogenität der Gesellschaft zu repräsentieren.

Die Kommune als Ausgangspunkt des demokratischen Konföderalismus

Arendts Definition von Rätedemokratie scheint eine gewisse Übereinstimmung mit dem Modell des demokratischen Konföderalismus zu haben. Dennoch lehnt der Demokratische Konföderalismus das Modell des Nationalstaates als ein monistisches Modell ab, da es automatisch eine herrschende Elite schafft und die Demokratie behindert. Durch die Rätedemokratie soll jede einzelne Identität von der lokalen Ebene bis zur Ebene der Koordination vertreten sein. Die kleinste Einheit des demokratischen Konföderalismus, die Kommune, besteht aus einer kleinen Anzahl von Haushalten, in der Regel zwischen 20 und 150, was bedeutet, dass jede:r, der:die auf dem Gebiet einer Kommune lebt, sich direkt vertreten kann.

Die Frage der Geschlechter- und Identitätsunterschiede wird durch autonome Strukturen gelöst: es gibt eine Geschlechterquote von 40 % und die Kommune wird von zwei Vorsitzenden vertreten, jeweils einem Mann und einer Frau. Auch kulturelle, religiöse oder ethnische Identitäten sind quotiert vertreten, unabhängig von der Größe der Minderheit. Damit unterscheidet sich der Demokratische Konföderalismus von den klassischen Modellen des Föderalismus. Im demokratischen Konföderalismus gibt es Elemente des Föderalismus wie das Modell der Kantone als Selbstverwaltungseinheiten. Aber die Idee des Föderalismus ist immer noch eine halbnationale Idee, die die Staatlichkeit nicht überwindet. Im Föderalismus sind die Selbstverwaltungseinheiten zu groß, damit wird die Partizipation an vielen Stellen blockiert.

Die Idee des Konföderalismus zielt in die Richtung einer Föderation von autonomen Räten. Die politische Autonomie der Kommune ist dabei ein zentraler Punkt. Daher scheint der Begriff Demokratischer Konföderalismus ohne den Begriff der Demokratischen Autonomie nicht denkbar. Die Demokratische Autonomie durchzieht alle Ebenen des Demokratisch-Konföderalen Modells, dessen Gesamtheit in einem Gebiet als Demokratische Nation bezeichnet wird.

Autonome Basiskommunen können sowohl in städtischen als auch in den meisten ländlichen Gebieten nur existieren, wenn sie Probleme durch den Zusammenschluss mit anderen Kommunen lösen – deshalb wurden Viertelräte, Stadträte, Kantonsräte und der Volksrat von Rojava eingeführt. Diese Räte setzen sich aus den Vorsitzenden der Kommunen und Räte der unteren Ebenen zusammen. Auf allen Ebenen wird dabei auch auf die Vertretung von Minderheiten geachtet – aber der Demokratische Konföderalismus geht noch weiter und versucht, das Konzept von Mehrheit gegen Minderheit durch die Stärkung regionaler Strukturen und Nachbarschaften zu durchbrechen. In Rojava gibt es drei Amtssprachen: Kurdisch, Arabisch und Aramäisch. Alle Posten des Rätesystems, die, übertragen auf ein repräsentatives System, die Entsprechung eines Ministerposten hätten, sind religiös und ethnisch quotiert. Das bedeutet, dass der Justizausschuss 21 Vertreter:innen hat, anstelle einer:s Justizminister:in in repräsentativen Systemen. Das zeigt, dass die Suche nach Konfliktbewältigung und gesellschaftlichem Konsens höher bewertet wird als die vermeintliche Effizienz eines Ministers.

Hannah Arendt hat die Einbeziehung der sozialen Frage in die Idee der Selbstverwaltung nicht akzeptiert. In diesem Punkt wurde sie von Jürgen Habermas kritisiert, der behauptete, sie habe nicht verstanden, dass der Endpunkt der Revolution die Emanzipation der unterdrückten Klassen bedeute. In diesem Zusammenhang sollten die Ideen von Rosa Luxemburg diskutiert werden, die feststellte, dass eine sozialistische Revolution durch die radikaldemokratische Organisation der Massen und durch den Aufbau der Selbstverwaltung und nicht nur durch den Wechsel der politischen Akteure durchgeführt werden sollte. Das luxemburgische Denken kann als eine Gegenströmung zu den autoritären Tendenzen in den sozialistischen Bewegungen verstanden werden. Die Einbeziehung der Wirtschaft in das Modell der Selbstverwaltung und Demokratisierung ist eine Parallele zwischen Demokratischem Konföderalismus und Rätesozialismus. Während das luxemburgische Modell aber vor Allem auf Arbeiter:innenräte setzt, und die Räte als Institutionen der Arbeiter:innenklasse definiert, zielt der Demokratische Konföderalismus auf die Gesamtheit der Gesellschaft.

Die Idee, den Räteansatz als radikaldemokratischen Ansatz für die gesamte Gesellschaft zu erweitern, wurde in den 1970er Jahren entwickelt. Der Wandel war darauf ausgerichtet, Politik jenseits des Staates, politische Organisation jenseits von Parteien und politische Subjektivität jenseits von Klassen zu entwickeln. Die Entwicklung der radikalen Demokratie im Nahen Osten muss in direktem Zusammenhang mit den von Luxemburg und Arendt angestoßenen Debatten gesehen werden. Und wie wir gezeigt haben, ist sie mit der Kritik der PKK am historischen Materialismus vereinbar.

Wirtschaft im demokratischen Konföderalismus – „Lasst uns Energie, Wasser und Land vergemeinschaften – Lasst uns eine freie Gesellschaft aufbauen“

Murray Bookchin definiert die ideale Wirtschaft als eine kommunalistische Form der moralischen Wirtschaft unter demokratischer Kontrolle. Er stellt fest, dass die Kontrolle der Wirtschaft und der Unternehmen durch die Kommunen die höchstentwickelte Form des Konföderalismus darstellt. Diese Grundsätze spiegeln sich in der Wirtschaftspolitik Rojvas: Seit 2012 verfügen die Kommunen über Wirtschaftskommissionen, die die Aufgabe des Aufbaus der kommunalen Wirtschaft wahrnehmen. Das bedeutet, dass mit Hilfe von Kommunen und Bewegungen wie TEV-DEM (Bewegung für eine demokratische Gesellschaft) oder Yekîtîya Star (Frauenbewegung) Genossenschaften aufgebaut werden. Land, das früher im Besitz des syrischen Staates war, wird kommunalisiert, was bedeutet, dass etwa 80 % des Landes unter der Kontrolle der Räte sind.

Die Kommunen bauen Genossenschaften auf, die das Land bewirtschaften, einen Anteil an die Kommune abgeben und für ihren eigenen Lebensunterhalt arbeiten. Die Überschussproduktion wird auf Märkten verkauft. Bookchin betont: „Ich möchte klarstellen, dass ich, wenn ich von einer moralischen Ökonomie spreche, nicht für eine genossenschaftliche Ökonomie eintrete, in der die kleinen Profiteure, wie wohlmeinend ihre Absichten auch sein mögen, einfach zu kleinen „selbstverwalteten“ Kapitalisten werden. Entweder werden kommunalisierte Unternehmen, die von Bürger:innenversammlungen kontrolliert werden, versuchen, die Wirtschaft zu übernehmen, oder der Kapitalismus wird sich durchsetzen“.

Diese Gefahr wird auch von der Selbstverwaltung in Rojava erkannt – so ist es einer Kooperative gesetzlich untersagt, sich vom Rat abzuspalten und ein kapitalistisches Unternehmen aufzubauen. Sie stehen immer unter der Kontrolle der Kommune, die die Vorsitzenden für die Kooperativen ernennt und von verschiedenen Wirtschafts- und Arbeiter:innenräten kontrolliert wird. „Wir bauen Kooperativen auf, um den Wettbewerb abzuschaffen und soziale Gleichheit zu schaffen.“ Die meisten Kooperativen sind klein, etwa fünf bis zehn Personen, die Textilien, landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel herstellen, aber es gibt auch schon einige größere Kooperativen, wie eine Kooperative in der Nähe von Amûde, die den Großteil des Lebensunterhalts von mehr als 2.000 Haushalten sichert und ihre Produkte auf dem Markt verkauft.

Während es in Rojava noch einen Markt gibt zielt das Ideal der kommunalen Wirtschaft auf den Austausch zwischen den Kommunen. Die Kooperativen sollen Verbände bilden, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen, was in Rojava bereits in Ansätzen in die Praxis umgesetzt und auf allen Ebenen des Rätesystems von Wirtschaftskommissionen koordiniert wird. Dieses Konzept, das wir auch mit dem Begriff Soziale Ökonomie fassen können, grenzt sich sowohl zum Neoliberalismus als auch zum Staatssozialismus ab. „Historisch gesehen hat sich die Wirtschaft getrennt von der Gesellschaft entwickelt“, so Dr. Dara Kurdaxi, Mitglied der Wirtschaftskommission in Afrîn. „Das führte zur Etablierung von Ausbeuterstaaten und schließlich zum Wirtschaftsliberalismus. Im Gegensatz dazu hat der Staatssozialismus, der von seinen eigenen wirtschaftlichen Ideen abwich, die Wirtschaft zum Teil des Staates gemacht und alles dem Staat überlassen. Aber der Staatskapitalismus unterscheidet sich offensichtlich nicht so sehr von multinationalen Firmen, Trusts und Konzernen. Diese historische Erfahrung hat gezeigt, dass wir in Rojava ein anderes Modell verfolgen müssen.“

Die Produktion sollte weder durch den Staat noch durch den Markt gelenkt werden, sondern durch die Gemeinden und Räte, die als Institutionen der Selbstvertretung in der Lage sind, die Bedürfnisse der Menschen zu kennen. In Rojava kommt dem Aufbau von neuen Wirtschaftsstrukturen zu Gute, dass Rojava vom syrischen Staat als Kolonie behandelt wurde. Es wurden zwar Ressourcen abgebaut, aber der Produktionssektor ist klein. Vor diesem Hintergrund hat in Rojava die Industrialisierung kaum stattgefunden. Diese soll, kommunalistischen und ökologischen Prinzipien folgend, nachgeholt werden, was allerdings von Wirtschaftsembargos und der Kriegssituation erschwert wird.

David Graeber beschreibt die Ökonomie von Rojava in drei Schichten: Die internationale Ökonomie, die mit den Kapitalmärkten verbunden ist und durch das Embargo im Moment praktisch nicht existiert, die Marktwirtschaft mit von den Räten kontrollierten Preisen und die kommunale Ökonomie zwischen den Räten.

„Der Kapitalismus stellt den Tauschwert in den Vordergrund, die Produktion von Dingen für den Markt. Er stützt sich ganz auf das Profitmotiv; die Produktion ist nicht für die Gesellschaft, sondern für den Markt. Aber eine Gesellschaft, die ihre wirtschaftlichen Aktivitäten nicht selbst bestimmen kann, ist auch nicht in der Lage, das Los ihrer eigenen Arbeitskräfte zu verbessern. Wir sind gezwungen, für erbärmliche Löhne zu arbeiten, aber wir tun es trotzdem. Wir arbeiten im informellen Sektor ohne Arbeitsplatzsicherheit, ohne gewerkschaftliche Organisation, aber wir arbeiten trotzdem. Die wirtschaftliche Selbstverwaltung ist für die demokratische Autonomie von entscheidender Bedeutung, ja, sie ist die Voraussetzung für die demokratische Autonomie. Eine Region, die nicht über ihre eigene Wirtschaft entscheiden kann, kann nicht autonom sein.“

So wird das Wirtschaftsmodell von Rojava als Antwort auf den Neoliberalismus der kapitalistischen Moderne und als Konsequenz auf die kritische Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus gesehen. Auf dem Weg zum Aufbau einer kommunalen Wirtschaft soll der Fokus vom Tauschwert auf den Gebrauchswert der Produkte verlagert werden. Dieser Mentalitätswandel hat laut Öcalan das Potential, die Probleme der Arbeitslosigkeit zu lösen, die als ein vom kapitalistischen System produziertes Problem definiert wird. Es gibt unendlich viele Tätigkeiten mit hohem Gebrauchswert, die sich nicht in Tauschwerten quantifizieren lassen und daher heute nicht als produktive Arbeit angesehen werden:

„Eine demokratisch-ökologische Gesellschaft, mit Geschlechterbefreiung und einer Moral, die nicht auf den Staat zentriert ist – Dass dies eine Utopie ist, bedeutet nicht, dass wir hier und jetzt nichts davon leben können. Demokratie und Sozialismus vom Staat zu erwarten, ist die Negation von Demokratie und Sozialismus (…). In nicht-staatlichen Demokratien müssen die Menschen und Gemeinschaften ihre Selbstverteidigung organisieren. Volksverteidigungsmilizen müssen in der Lage sein, die Werte der Volksdemokratie und alle Werte, die es zu schützen gilt, in den Dörfern, Städten, Bergen und Wüsten vor Räubern, Dieben und Unterdrückern zu schützen. Auf dem wirtschaftlichen Sektor ist es möglich, Kommunen, Kooperativen und verschiedene Vereinigungen zu gründen und eine Wirtschaft zu schaffen, die nicht auf Kommerzialisierung, Profitlogik und Konkurrenz basiert und nicht gefährlich für Mensch und Umwelt ist. Arbeitslosigkeit ist ein strukturelles Problem der Ausbeutungssysteme und kann in einer demokratisch-ökologischen Gesellschaft kein Problem sein. Die Schaffung einer Gesellschaft, in der schöpferische Bildung und Leidenschaft für das Leben zentrale Motive sind, kann als der beste Weg zum Sozialismus angesehen werden. “

Fazit

Aus den negativen Erfahrungen mit den Folgen des Nationalstaatsmodells heraus schuf die PKK und insbesondere ihr Vorsitzender Abdullah Öcalan ein alternatives Modell des Konföderalismus, das keine räumlichen oder politischen Grenzen kennt. Ein Modell der sozialen Revolution und der politischen Evolution – das bedeutet, dass ein gesellschaftlicher Aufbauprozess gestartet wird, der das gesellschaftliche Verständnis der Menschen transformiert und auf dieser Grundlage eine Konföderation mit all ihren notwendigen Strukturen, von der Verteidigung bis zur Wirtschaft, aufbaut. So findet Wandel statt, während Gewalt nur als Mittel der Selbstverteidigung eingesetzt wird und keinen strategischen Wert an sich hat. Ebenso wie das Modell der Selbstverteidigung basieren auch alle anderen Teile der demokratisch konföderalen Institutionen auf der Koexistenz und nicht auf der Machtübernahme. Es geht nicht darum, einen einzelnen Nationalstaat in Frage zu stellen, sondern das Modell der Staatlichkeit im Allgemeinen – dies verleiht dem demokratischen Konföderalismus seine revolutionäre Kraft, die im heutigen Rojava in Nordsyrien ebenso wie in den kurdischen Gebieten der Türkei zu beobachten ist und die eine Lösung für viele der Konflikte im Nahen Osten und darüber hinaus bieten kann.


(1) Arendt, Hannah (2011): Über die Revolution. Ungekürzte Taschenbuchausg. München: Piper (Serie Piper, 6477).

(2) Auernheimer, Gustav, (2007), Revolution und Räte bei Hannah Arendt und Rosa Luxemburg, in: Utopie Kreativ, Nr. 201/201, p. 700

(3) Ayboga, Ercan, Flach, Anja, Knapp, Michael (2015) Revolution in Rojava, VSA-Verlag

(4) op. cit.