Die Konferenz „Unsere Revolution: Das Leben befreien“, organisiert durch das Netzwerk „Women weaving the Future“ und der kurdischen Frauenbewegung, findet am 5. und 6. November in Berlin statt. Die Konferenz ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, die transnationale Organisierung von Bündnissen unterschiedlicher feministischer Frauenkämpfe aus der ganzen Welt zu stärken und basiert darauf, dass „wir weiter unsere Erfahrungen teilen müssen und uns auf die neuen Attacken des Patriarchats auf unsere Körper, Freiheiten und unser Denken vorbereiten[müssen]“, wie es im Einleitungstext steht.
Das Programm der Konferenz ist intensiv und wird durch Vorträge und Debatten auf der Bühne sowie zahlreicher Workshops diverse Themen umfassen. Im Fokus sollen stehen: die Gewalt von Nationalstaaten gegen Frauen, Ökozide, die kapitalistische Ausbeutung unsichtbarerer Frauenarbeit, derzeit aktuelle „heiße Kriege“ sowie die Frage dessen, wie eine Front der Frauen dagegen aufgebaut werden könnte. Außerdem geht es darum, kollektive Antworten auf die erstarkenden rassistischen, faschistischen, religiös-fundamentalistischen Kräfte aus lokaler und globaler Perspektive zu finden sowie um die Bildung dekolonialen Wissens und Wissenschaft von und für Frauen, wie Jineolojî, und viele weitere Themen rund um feministische systemkritische Organisationen (hier ist die Webseite der Konferenz und das Programm). An der ersten Konferenz des Netzwerkes, welche 2018 in Frankfurt am Main organisiert wurde, nahmen hunderte Frauen aus der ganzen Welt teil. Beide Konferenzen sind als, wie es die kurdische Frauenbewegung nennt, wichtige Momente der Bildung bezüglichen des demokratischen Weltfrauenkonförderalismus zu verstehen. Das folgende Interview soll dazu dienen, Prinzipien und Herausforderungen, die damit einhergehen, zu verstehen.
Das Interview wurde geführt mit Meral Çiçek, welche Mitglied der kurdischen Frauenbewegung und des kurdischen Zentrums für Frauenangelegenheiten (Navenda Pêwendiyan in Jinên Kurd – REPAK) sowie Mitorganisatorin der Konferenz in Berlin ist. Ihre langjährige Erfahrung in der Bewegung und in der internationalen Diplomatie macht ihre Perspektive extrem wertvoll. Dieses Interview, aufgenommen im Januar 2022, war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedacht, sondern wurde als Teil der Forschung für eine Doktorarbeit geführt. Es beinhaltet zum einen eine detaillierte Auseinandersetzung und praktische Reflektion der kurdischen Frauenbewegung, insbesondere bezüglich der Schwierigkeiten und konkreten Herausforderungen in der Organisierung von weltweiten Frauenbündnissen, sowohl durch die zwei weltweiten Konferenzen als auch durch regionale Konferenzen im Mittleren Osten und Nordafrika, welche ebenfalls durch die kurdische Frauenbewegung in den letzten zehn Jahren organsiert wurden. Einige sehr technische Teile wurden von Meral und mir entfernt und umstrukturiert, sodass das Interview für die LeserInnen besser verständlich ist. Als übergreifende allgemeine Einführung zur Thematik des Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus empfehle ich zunächst dieses Video, welches ebenfalls von Mercal Cicek stammt und als Grundlage zur Einführung bieten soll.
Die kurdische Frauenbewegung war schon immer eine transnationale Bewegung, welche – durch seine Organisation, die Gemeinschaft der Frauen Kurdistans (Komalen Jinen Kurdistan, KJK) – die Kämpfe der Frauen in den unterschiedlichen Teilen Kurdistans und der Diaspora aber auch weltweit verbindet und Bündnisse mit anderen Frauen und feministischen Bewegungen in der Welt organisiert. Ich kann mir vorstellen, dass der Vorschlag für den weltweiten demokratischen Konförderalismus der Frauen inspiriert worden ist von der konföderalen Struktur der kurdischen Frauenbewegung, oder? Kannst du mir ein bisschen über die Idee hinter diesem Vorschlag und dessen Geschichte berichten?
Der Demokratische Weltfrauenkonföderalismus befindet sich noch in einem Prozess. Sowohl auf theoretischer als auch praktischer Ebene ist er geprägt durch einen Prozesscharakter, da wir auf der ständigen Suche sind, Antworten auf unsere Fragen sowie auf die Herausforderungen, auf welche wir in der Praxis stoßen, zu finden versuchen.
Es ist eine Sache, etwas wie eine Theorie zu konzeptualisieren und eine völlig andere, etwas in die Praxis umzusetzen. In der Praxis konnten wir beobachten, dass alle Herausforderungen mit unserem Charakter, unserem Verhalten und strukturellen Dingen verbunden sind. Was sich insbesondere nach 2014 geändert hat ist die Frage, wie wir als kurdische Frauenbewegung eine so große Bewegung ohne jeglichen Zentralismus organisieren können.
Stell dir vor, du hast eine so große Bewegung, wie es die kurdische Frauenbewegung ist, mitsamt der einhergehenden politischen Sphäre, den bewaffneten Kämpfen, der sozialen Sphäre und organisiert in den unterschiedlichen Teilen Kurdistans und der Diaspora. Um die Arbeit zu koordinieren brauchst du eine starke Leitung, wobei es gleichzeitig auch essenziell ist, dem Kampf und der Bewegung viel Autonomie zu ermöglichen. Diese ist ein Kernthema: Wie kann ein gutes Verhältnis zwischen Koordination und Autonomie in den verschiedenen Strukturen ermöglicht bzw. erreicht werden?
Die Reflektion um diese Frage begann insbesondere 2014, woraufhin den verschiedenen Frauengruppen und Unterorganisationen der Bewegung mehr Autonomie ermöglicht wurde.
Das andere Kernthema war der Aufbau des Systems. Es geht ja nicht nur darum sich gegen einen Feind wie den türkischen Staat zu verteidigen, sondern gleichzeitig auch darum, eine Alternative aufzubauen.
Dafür hat das KJK System den Prozess gestartet, ein konföderales System der Frauen aufzubauen, welches auf den verschiedenen Dimensionen von Öcalans Konzeption des demokratischen Konföderalismus, der demokratischen Nation beruht. Dazu gehören Gesundheit, Bildung, Ökonomie, Diplomatie und Selbstverteidigung. Diese Sphären bilden das konföderale System der Frauen. Durch all dies wurde begonnen, eine Alternative zur patriarchalen und kapitalistischen Moderne zu etablieren. Wenn wir über Konföderalismus der Frauen sprechen, sprechen wir also über zwei Seiten: zum einen den gemeinsamen Kampf gegen das patriarchale System auf einer weltweiten Ebene zu organisieren und zum anderen eine Organisation von und für Frauen aufzubauen. Dies ist mitunter ist mitunter auch der Grund, warum Öcalan die revolutionären Bewegungen des 19. Und 20. Jahrhunderts kritisiert. In Anlehnung an Öcalan waren diese Bewegungen nicht in der Lage, eine alternative Moderne zu entwerfen: Sie haben versucht, mithilfe der Methoden der kapitalistischen Moderne Revolution zu machen, weswegen sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt seien. Was ihnen fehlte, und was Öcalan als Kern der Revolution des 21. Jahrhunderts ansieht, ist die Frauenbefreiung. Wenn wir das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der Frauenbefreiung machen wollen, ist der wichtigste Aspekt nämlich der, ein alternatives System durch Frauen zu schaffen. Der Demokratischer Konföderalismus könnte ein Modell für dieses System sein. Das schlagen wir, als kurdische Frauenbewegung, vor. Der Grund hierfür ist, dass nicht nur wir eine stärkere Koordination und einen gemeinsamen Kampf der Frauen weltweit benötigen. Wir haben, insbesondere auch aufgrund der Pandemie beobachten können, dass viele Menschen und Frauen aus der ganzen Welt mehr und mehr einen neuen Transnationalismus und/oder einen neuen Internationalismus der Frauen brauchen.
Der KJK versucht mit diesem Vorschlag einen kollektiven Disskussionsprozess zu starten zu Fragen wie: Warum haben wir das Gefühl, dass wir starke transnationale Bewegungen oder feministische Organisation brauchen? Wie hängt das zusammen mit dem weltweiten Herrschaftssystem und mit dem Kampf der Frauen für Demokratie und Freiheit? Was könnte eine Lösung für unsere Aufgabe sein?
Vielleicht wird die Lösung nicht der demokratische Konföderalismus sein, vielleicht wird es sogar etwas Besseres geben. Vielleicht werden wir zusammen etwas ganz Neues schaffen. Wir denken, dass wir diese Debatte miteinander brauchen.
Wie ich schon sagte, ist dies ein Prozess, der eine starke Kerngruppe benötigt der diesen Prozess in gewisser Weise leiten kann. Man kann diesen Prozess zum Beispiel nicht mit liberalen feministischen Organisationen beginnen. Es braucht Organisationen, die bereits vor Ort organisiert sind und einen radikalen Ansatz verfolgen, sowie Akademikerinnen oder Feministinnen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Wer wird die Kerngruppe dieses Prozesses sein? Die Auseinandersetzung mit diesem Thema ist eine große Herausforderung, der wir uns auch in anderen Situationen stellen müssen. Ich arbeite als Vertreterin der kurdischen Frauenbewegung in verschiedenen transnationalen Strukturen, und manchmal versuchen wir auch, Plattformen oder Koordinationsstellen für ein bestimmtes Thema einzurichten, aber die Organisation funktioniert oft nicht, sie liegt immer wieder nur auf den Schultern weniger Personen. Also ja, es müssen viele Dinge diskutiert werden. Eine andere Frage ist, wie man ein Gleichgewicht zwischen der Arbeit innerhalb der eigenen Bewegung und der transnationalen Arbeit schaffen kann. Denn ich bin in erster Linie für die Situation in Kurdistan verantwortlich. Wie viel Zeit kann ich also in die Arbeit einer transnationalen Plattform investieren, zum Beispiel als Koordinatorin für den Nahen Osten? Wie viel kann ich in die Länder des Nahen Ostens reisen und den Frauenorganisationen vorschlagen, an einer bestimmten Konferenz teilzunehmen, während meine eigene Bewegung ebenfalls Konferenzen organisiert? Ich meine, das ist eine sehr große Herausforderung für die Frauenorganisationen, die auf lokaler oder nationaler Ebene organisiert sind, wissen Sie? Der Versuch, auch transnational zu arbeiten, ist sehr schwierig. Es ist schwierig, dieses Gleichgewicht herzustellen, weil man sich mehr für seine eigene nationale oder lokale Organisation verantwortlich fühlt, und nur dann, wenn man noch Zeit hat, kann man etwas anderes machen.
2018 fand die erste Konferenz „Revolution in the Making“ in Frankfurt statt. Wie lief der organisatorische Prozess ab? Wie wurden z.B. die Gäste ausgewählt? Wer war Teil des Netzwerks Women „Weaving the Future“, das die Konferenz organisiert hat?
Am Anfang bestand das Netzwerk aus der kurdischen Frauenbewegung und einigen Internationalistinnen, es waren also noch nicht so viele Organisationen dabei. Wir hatten von Anfang an das Ziel, den Rahmen der Kurdischen Frauenbewegung zu verlassen, um etwas Gemeinsames zu schaffen. Also beschlossen wir, diese Konferenz nicht unter dem Namen einer Frauengruppe oder Organisation zu organisieren. Wir sagten: „Lasst es uns unter dem Namen eines Netzwerks machen, und vielleicht ist es dieses Jahr hauptsächlich die kurdische Frauenbewegung, aber nächstes Mal werden auch andere Gruppen dabei sein“. Zunächst haben wir über den Inhalt der Konferenz selbst diskutiert. Also, was für eine Art von Konferenz werden wir machen? Was sind die Ziele? Welche Art von Tagesordnung wollen wir erstellen? Als erstes haben wir das Programm erstellt und anhand dessen überlegt, wer zu den verschiedenen Themen etwas vortragen könnte. Wir haben das Programm nicht nach den RednerInnen zusammengestellt, sondern umgekehrt. Vielleicht erinnerst du dich, dass es zwei Hauptpanels über Frauenkämpfe gab. In dem einen ging es um die Kämpfe der Frauen in der Gegenwart, und wir haben wirklich viel darüber nachgedacht, was die wichtigsten Kämpfe zu dieser Zeit waren. Als wir die weltweite Situation analysierten, konzentrierten wir uns also nicht auf die Bewegungen selbst, sondern auf die Themen oder, sagen wir, auf die Agenden der Bewegungen. Zum Beispiel war der Kampf für die Abtreibung zu diesem Zeitpunkt in Argentinien ziemlich stark, aber es war und ist ein transnationaler Kampf. Wir haben also nicht über eine bestimmte Bewegung nachgedacht und sie dann eingeladen, sondern über die Kampffelder und welche Bewegung sie am besten hätte vertreten können. So haben wir die Referentinnen ausgewählt, ausgehend von den Themen, wie Selbstverteidigung oder sexuelle Gewalt und so weiter. Es gab zum Beispiel das erste Panel, in dem es darum ging, wie wir als Frauen die Situation in der Welt sehen, so etwas wie einen Rahmen für die politische Situation weltweit. Wie ist die Situation des herrschenden Systems? Wie ist die Situation der Frauen? Und dann ging es im 2. und 3. Panel um die Revolution der Frauen, welcher nicht als geschlossener Prozess gedacht ist. Die feministischen Kämpfe und Kämpfe der Frauen sind vielfältig im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts. Was sind das für Kämpfe? Wogegen kämpfen sie? Wie organisieren sie sich? Wir hatten zum Beispiel Frauenkämpfe aus den Teilen Kurdistans, aus Afghanistan, aus verschiedenen Teilen Lateinamerikas, von Black Lifes Matter usw. als Themen: zeitgenössische Frauenkämpfe und als Rednerinnen diejenigen, die sie vertreten können. Dann hatten wir ein Panel über die kurdische Frauenbewegung am zweiten Tag nach den Workshops mit Referentinnen aus Rojava.
Während wir uns bei der ersten Konferenz in Frankfurt eher auf die Erfolge der Frauenrevolution und der Kämpfe konzentriert haben, denke ich, dass es bei der nächsten Konferenz in Berlin gut wäre, selbstkritischer zu sein – aber das ist meine persönliche Meinung. Wir sollten uns auf die Herausforderungen und die schwachen Seiten der Frauenbewegungen konzentrieren. Wir sollten uns fragen: Was sind unsere Probleme? Warum sind wir so weit voneinander entfernt? Was sind die Gründe dafür? Warum sind wir nicht in der Lage, gemeinsam zu kämpfen? Ich denke, das wäre besser, denn gegenseitige Propaganda ist nicht so sinnvoll. In einigen Fragen müssen wir radikal zueinander sein, wir müssen kritisch und selbstkritisch sein, um die Probleme zu überwinden, die wir haben. Und wir müssen offen über diese Probleme sprechen, denn es gibt einige Themen, die mit strukturellen Problemen zusammenhängen, mit der weltweiten Situation, mit den zunehmenden Angriffen des patriarchalen Systems; aber es gibt auch viele Themen, die mit uns selbst zu tun haben. Wie wirkt sich zum Beispiel der Liberalismus innerhalb der Frauenbewegung aus? Darüber müssen wir sprechen. Was ist mit den Machtverhältnissen innerhalb der Bewegung? Was ist mit Nationalismus, Religion, positivistischer Wissenschaftlichkeit und Sexismus, den vier Beinen des Kapitals und des Nationalstaates? Wie funktionieren sie heute, um die Frauenbewegungen zu schwächen? Heutzutage gibt es einen sehr systematischen Angriff der Fundamentalisten auf die Errungenschaften der Frauenbewegungen, und zwar im Namen des Islam, des Christentums, des Judentums. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen dem Angriff Erdogans auf die Istanbuler Konvention und beispielsweise dem Krieg der Evangelisten gegen die Frauen in Peru oder in Nordamerika. Sie benutzen die gleichen Argumente, die einen mit dem Maskottchen des Islam, die anderen mit dem des Christentums. Es ist dasselbe, es ist völlig dasselbe. Das ist Religionismus. Wir haben kein Problem mit der Religion, wohl aber mit dem Religionismus. Und letzterer wird heutzutage nicht nur von Kräften wie Daesh (Islamischer Staat) benutzt. Gleichzeitig sehen wir, dass es noch etwas anderes gibt, das mit Nationalismus und Chauvinismus zu tun hat. Wir hatten zum Beispiel im vergangenen Juli diese Nahost-Konferenz im Libanon, und danach dachte ich, dass wir wirklich darüber nachdenken müssen, wie Nationalismus und Chauvinismus uns voneinander trennen; wie schwächen oder liberalisieren diese Ideologien den Kampf der Frauen heute, verstehen Sie? Ich denke, dass die Berliner Konferenz den Boden oder den Rahmen für ein solches Gespräch bilden sollte. Während wir darüber sprechen, was Konföderalismus ist und wie man ihn und seine Mechanismen aufbaut, sollten wir auch fragen, was die Probleme und Herausforderungen sind, die wir überwinden wollen.
Warum haben Sie beschlossen, die Konferenz in Frankfurt, einem der Zentren des finanzkapitalistischen Systems, abzuhalten? Außerdem hatte ich bei dieser ersten Konferenz den Eindruck, dass auf der Bühne nur Frauen aus dem Globalen Süden saßen, aber das Publikum bestand hauptsächlich aus weißen, europäischen Frauen und Aktivistinnen aus der Mittelschicht…
Wenn wir über Frankfurt sprechen, ja, es ist eine der Hauptstädte der Weltfinanz, und ich denke, es ist manchmal auch gut, in die Zentren des herrschenden Systems zu gelangen. Aber die Hauptgründe, warum wir uns für diese Stadt entschieden haben, waren praktische Gründe. Für eine so große Konferenz mit Hunderten von Teilnehmern, die in privaten Familienhäusern untergebracht sind, ist es sehr wichtig, einen Ort zu wählen, an dem man gut organisiert ist. Und in Frankfurt hatten wir den Vorteil, dass wir dort einen sehr starken kurdischen Frauenrat haben. Er ist sehr stark, und da sie die Last auf sich nehmen mussten – das Essen zu besorgen, die Leute zu ihren Häusern zu bringen und solche Dinge – war es sehr wichtig, eine starke lokale Organisation zu haben. Das ist eine Antwort. Und über die Frage, warum mehr, sagen wir, europäische Frauen auf der Konferenz waren, haben wir gesprochen, als wir mit dem internen Vorbereitungsprozess der zweiten Konferenz in Berlin begannen. Die Gründe waren zum einen organisatorischer Natur, denn beim letzten Mal war es hauptsächlich die kurdische Frauenbewegung in Europa, die die Konferenz organisiert hat. Die Referentinnen kamen aus anderen Teilen Europas, aber diejenigen, die die Konferenz organisierten, waren die kurdischen Frauengruppen oder Vereine oder Komitees aus Europa selbst. Diesmal, für die zweite Konferenz, haben wir so etwas wie ein eigenes, breiteres Vorbereitungskomitee gegründet, in dem Vertreterinnen aller unserer Gemeinschaften aus den vier Teilen Kurdistans im Nahen Osten, aus Lateinamerika und von allen Orten, wo wir ansässig sind, vertreten sind. Dieses Mal ist die Konferenz also nicht nur auf die kurdische Bewegung in Europa ausgerichtet. Um die Themenvielfalt und die Teilnahme von Frauen aus allen anderen Teilen, wie dem Nahen Osten, zu gewährleisten, wurden diesmal alle unsere Gemeinschaften von Anfang an in den Prozess einbezogen, damit sie sich einerseits für die Konferenz verantwortlich fühlen, andererseits aber auch, um eine breitere Beteiligung zu gewährleisten. Ich meine, am Ende werden es vielleicht wieder mehr Frauen aus Europa sein, weil die Konferenz in Europa stattfindet, aber das ist normal. Schließlich gibt es auch finanzielle Fragen, aber dieses Mal werden wir wirklich daran arbeiten, eine größere physische Beteiligung auch aus verschiedenen Teilen der Welt sicherzustellen.
Wie kommen Sie an die Finanzmittel?
Diesmal haben wir versucht, früher anzufangen und Stiftungen um finanzielle Hilfe zu bitten. Die kurdische Frauenbewegung hat viel Erfahrung in der Organisation von Konferenzen und so weiter, aber in Frankfurt hatten wir zum ersten Mal eine so große Konferenz, und deshalb haben wir den Vorbereitungsprozess für die zweite anders begonnen. Wir haben Lehren aus der ersten Konferenz gezogen und uns gefragt, was beim letzten Mal nicht so gut gelaufen ist, damit wir in der Lage sind, Probleme zu lösen.
Welche Rolle spielt die kurdische Frauenbewegung in diesem ganzen Prozess des Aufbaus des Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus? Ist sie eine Avantgarde oder eine führende Gruppe? Wenn ja, haben Sie keine Angst davor, die Zentralisierung der Macht zu reproduzieren?
Ich habe keine Angst, denn wir haben bereits viele Allianzen mit Frauenorganisationen aus verschiedenen Teilen der Welt und wir haben bereits ein gewisses Maß an Vertrauen und demokratischer Kultur zwischen uns aufgebaut. Außerdem haben wir nicht etwas Fertiges, mit dem wir sagen: „Okay, das ist die Lösung“. Wir denken, dass es ein Vorschlag von unserer Seite ist, der auf unseren Erfahrungen basiert, und wir glauben, dass es ein Modell für die Organisation der transnationalen Frauenbewegung sein könnte, aber vielleicht auch nicht. Wir sind also offen, und ich denke, es ist sehr wichtig, dass man auch für andere Gedanken, für andere Ideen offen ist. Vielleicht wird es ein ganz anderes Ergebnis geben, vielleicht wird es nicht demokratischer Konföderalismus genannt werden. Das ist auch eine Herausforderung, denn auch in den eigenen Reihen gibt es manchmal die Situation, dass zum Beispiel jemand sagt: „Ok, ich bereite alles vor, ich schreibe alles, und der andere soll kommen und mitmachen“. Und das ist etwas, von dem wir von Anfang an gesagt haben, dass wir das nicht wollen, weil wir etwas gemeinsam machen wollen. Wir fangen also mit einem Vorschlag an, aber von diesem Vorschlag an sollte der Prozess kollektiv sein. Denn sonst würden wir wieder eine Struktur schaffen, die von uns abhängig ist. Und das wird nicht funktionieren. Man muss kollektivieren. Wenn der Prozess nicht auf kollektiver Basis beginnt, bist du nicht in der Lage, ihn auch kollektiv weiterzuführen und er würde immer auf deinen Schultern lasten. Es geht um die Überwindung des Zentralismus und um neue Universalismen. Es gibt einen Unterschied zwischen etwas, das universell ist, und der Schaffung eines neuen Universalismus, und ich denke, man sollte mit Letzterem sehr vorsichtig sein. Man kann sagen, wir wollen eine universelle Frauenbewegung oder einen universellen Frauenkampf aufbauen, oder es gibt einige Themen, die universell sind, aber wenn man versucht, aus dem eigenen Lokalismus einen neuen Universalismus zu schaffen, ist das sehr gefährlich. Das sollte man nicht tun, vor allem nicht für die Frauenbewegung, denn das würde wieder zu neuen Macht- und Hierarchieverhältnissen führen. Eine Sache ist es, Bedürfnisse zu benennen, zu sagen, wir müssen dies tun, oder unsere Kämpfe sollten so sein, aber das Wie ist der zweite Schritt, und das Wie kann nur kollektiv herausgefunden werden und erfordert eine Menge Arbeit. Eine Notwendigkeit ist unserer Meinung nach zum Beispiel eine Akademie für die weltweite Frauenbewegung. Wir haben keine Struktur für gemeinsame Bildung, für gemeinsame Überlegungen. Eine Idee war zum Beispiel, die Akademie des Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus oder die Akademie der Frauenrevolution oder etwas Ähnliches aufzubauen. Ein Ort, an dem man, zum Beispiel einmal im Jahr, eine gemeinsame Fortbildung mit Vertreterinnen fortschrittlicher Frauenorganisationen aus der ganzen Welt hat. Stellen Sie sich vor, Sie hätten so etwas in Rojava, zum Beispiel, wo Frauen von Kongra Star mit Frauen von Ni Una Menos, der zapatistischen Bewegung, oder der Bewegung der Schwarzen Frauen aus dem Sudan und so weiter, zusammenkommen. Dabei geht es nicht nur um den Austausch von Erfahrungen, sondern um einen gemeinsamen theoretischen Produktionsprozess und um die Frage, was unsere Herausforderungen sind, was mögliche Lösungen sind, was die Agenda unseres Frauenkampfes sein sollte, was eine neue Kampagne sein könnte oder ähnliches. Wir brauchen eine Struktur für die Reflexion und für die theoretische Arbeit. Ich denke, dies ist auch ein Teil des Frauenkonföderalismus.
In diesem Stadium scheint der Vorschlag eines Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus auf einem riesigen Prozess der gegenseitigen Bildung und des kollektiven Austauschs zwischen verschiedenen Kämpfen zu beruhen, einem Gespräch zwischen den Bewegungen, so dass sie am Ende einen kollektiven Vorschlag haben können, der sowohl auf der ersten Idee der kurdischen Frauenbewegung als auch auf den Beiträgen anderer Frauenkämpfe, die an dem Prozess beteiligt sind, basiert. Habe ich das richtig verstanden?
Ja. Und es ist auch eine Herausforderung für das Format der Konferenz. Oft macht man eine Konferenz und fasst so viele Beschlüsse, aber man schafft kein Gremium, das in der Lage ist, diesen Beschlüssen zu folgen oder sie umzusetzen. Ich meine, warum sollte man Entscheidungen treffen, ohne eine Organisation zu haben? Das macht keinen Sinn. Das ist nur Propaganda. Man schafft nur ein neues Image, indem man sagt: „Wir hatten diese großartige Konferenz mit Hunderten von Frauen, und wir haben all diese Beschlüsse gefasst“, aber alle Leute vergessen diese Beschlüsse später. Aus diesem Grund denke ich, dass die Konferenz dem Organisationsprozess dienen sollte. Und vielleicht wollen nicht alle Frauen, die zu Konferenzen kommen, am Ende Teil einer Organisation sein. Es ist also sehr wichtig, im Vorfeld der Konferenz viele Gespräche zu führen. Dann würde ich nicht sagen – und ich meine, ich kann das nicht entscheiden, wir werden sehen, was sich aus dem Prozess ergibt -, dass die Konferenz der Ort für die Ankündigung einer neuen Organisation ist, sondern eher der Beginn eines Prozesses, zum Beispiel zu sagen: „Wir, als diese Organisationen oder Aktivistinnen oder Feministinnen oder so, die hier anwesend sind, kündigen von diesem Punkt an den Prozess des Aufbaus des Frauenkonföderalismus an. Deshalb werden wir ein solches Netzwerk aufbauen“. Denn vielleicht kündigen wir die Schaffung eines Netzwerks an, das vielleicht funktionaler sein wird. Vielleicht werden wir beschließen, Allianzen zu schmieden, ich weiß es nicht. Es ist nicht klar, aber wir sollten nicht vergessen, dass Konferenzen funktional sind, also sollte das Hauptziel nicht darin bestehen, die Konferenz selbst zu organisieren. Die Konferenz sollte einem anderen Ziel dienen. Und was ist das Ziel der Konferenz? Wenn das Ziel der Konföderalismus der Frauen ist, und wenn der Konföderalismus der Frauen nicht nur eine Organisation ist, die man gründet und sagt, „Ok, jetzt habe ich die Gründung dieser Organisation verkündet“, wenn es ein langer Prozess ist, dann müssen wir diesen Weg einschlagen, der Teil eines langen Prozesses ist. Wir müssen uns über unsere eigenen Grundsätze, unseren Arbeitsstil und unsere Mechanismen im Klaren sein, und das braucht Zeit.
Du sprachst von der Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen der lokalen und der transnationalen Ebene des Kampfes zu schaffen. Wie gehst du mit diesem Problem innerhalb der Bewegung um?
Das ist sehr schwierig. Wenn ich in diesem Bereich, in dieser Struktur arbeite, dann sollte das meiner Meinung nach meine Hauptaufgabe sein. Ich kann das nicht als eine Teilaufgabe behandeln, weil das zu viel ist. Ich meine, wenn eine Person 10 verschiedene Verantwortlichkeiten hat, wird sie nicht in der Lage sein, diese Brücken des gemeinsamen Kampfes zu bauen. Die transnationale Bewegung würde dann nicht funktionieren. Sie wäre immer wie eine Organisation mit der ganzen Last, die ständig die Initiative ergreifen muss, so dass es keine funktionierende transnationale Frauenorganisation oder -bewegung gibt. Sie würde nur länderübergreifend scheinen, aber im Inneren wäre es immer nur eine Organisation, die die ganze Zeit den Prozess sicherstellt, und das ist auch bei uns passiert. Dann geht es um Ressourcen, und wenn wir von Ressourcen sprechen, geht es nicht nur um finanzielle Mittel, die auch sehr, sehr wichtig sind, sondern um die Fähigkeiten der Kader. Für diese Arbeit ist es sehr wichtig, andere Sprachen zu sprechen. Man muss Englisch können. Oder wenn Sie in Lateinamerika arbeiten, brauchen Sie Spanisch. Und wenn man nicht genügend Leute mit diesen Fähigkeiten hat, ist es schwierig. Es gibt also auch innerhalb der Bewegungen selbst eine Menge Herausforderungen. Ein weiteres wichtiges Thema sind die finanziellen Fragen und die Machtverhältnisse in transnationalen Frauenorganisationen, denn für eine Organisation im Globalen Norden ist es vielleicht einfach, Spenden zu sammeln, aber in unserem Fall kann ich nicht nach Kurdistan fahren und um Geld für eine Frauenkonferenz bitten. Und das gilt auch für viele andere Frauenorganisationen in Afrika oder im Nahen Osten oder in Lateinamerika. Und manchmal haben Genossinnen aus dem Norden und den reichsten Ländern eine eurozentrische Sichtweise, die Widersprüche und Machtverhältnisse schafft. Selbst wenn wir uns als antiimperialistisch, sozialistisch oder links bezeichnen, haben wir Verhaltensweisen geerbt und reproduzieren Machtverhältnisse innerhalb unserer eigenen Strukturen, innerhalb der Frauenbewegungen oder in den transnationalen Organisationen. Wenn wir also über die Schaffung eines transnationalen Konföderalismus sprechen, geht es aufgrund all dieser Herausforderungen nicht nur um die Koordinierung unserer Arbeit. Es geht darum, wie wir einen gemeinsamen Kampf gegen das patriarchale Ausbeutungssystem organisieren können, und wie wir diesen gemeinsamen Kampf organisieren können, wie wir die Solidarität auf eine neue Ebene bringen können, die über die gegenseitige Unterstützung hinausgeht und auch darum, wie wir wirklich gemeinsam kämpfen, uns gegenseitig verteidigen und so etwas wie die Selbstverteidigung der Weltfrauenbewegung schaffen können. Es sind viele Dinge notwendig. Auf der einen Seite braucht man Mechanismen dafür, aber auf der anderen Seite braucht man auch dieses Verständnis, dass man nicht sagt: „Ok, mein nationaler oder lokaler Kampf ist wichtiger“, denn dein Kampf ist auch Teil des transnationalen Kampfes. Die Ausbeutung und Unterdrückung, mit der ihr konfrontiert seid, ist der lokale Ausdruck eines globalen Systems der Ausbeutung.
Als kurdische Frauenbewegung haben wir in der Koordinierungsarbeit viele Erfahrungen gemacht, bei denen es nicht nur um Lösungen, sondern auch um Herausforderungen geht. Zum Beispiel ist nach dem demokratischen Konföderalismus jede Dimension gegenüber den anderen verantwortlich. Es handelt sich um ein System gemeinsamer Verantwortlichkeiten, und alle müssen zusammenwirken, um konföderalistisch zu sein, was in der Praxis oft nicht funktioniert. Zum Beispiel sollte die Gesundheitsdimension gute Beziehungen zum Ausland haben, um Beziehungen zu anderen Bewegungen auf der ganzen Welt zu knüpfen, die, sagen wir, an der alternativen Gesundheit der Menschen arbeiten, oder man braucht vielleicht Krankenhäuser oder Medikamente, also braucht man auch Beziehungen zur Außenwelt, aber die Beziehung zwischen dieser Dimension und den anderen Dimensionen ist vielleicht nicht so stark, weil alle diese Dimensionen an sich selbst denken, an ihre eigenen Bedürfnisse, so dass wir intern viele Herausforderungen haben, unser System oder Modell zu verwirklichen und zu leben.
Wenn ein Komitee, z.B. für Ökologie, Beziehungen zu den Basisgemeinden, der internationalen Ebene, den Gesundheitskomitees usw. haben muss, dann sind sehr viele Versammlungen, Zusammenkünfte und Treffen erforderlich, oder? Wie geht ihr mit der Gefahr der Arbeitsüberlastung um?
Das ist sicherlich eine Herausforderung und wir arbeiten immer noch daran, Lösungen zu finden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass wir, ohne es zu wollen, zu viel Bürokratie, zu viele Versammlungen, zu viele Zusammenkünfte schaffen. Man hat keine Zeit mehr, weil man jeden Tag zu einer Versammlung gehen muss. Das ist keine Lösung. Man redet zu viel, und das macht das Tempo sehr langsam und sehr bürokratisch. Und ich denke, ein Grund, warum wir zu viele Sitzungen haben, ist, dass es hauptsächlich dieselben Leute sind, die zu den Sitzungen oder Treffen gehen. Und das bringt uns zu der Frage, wie wir die Verantwortlichkeiten innerhalb, sagen wir, jeder Kommune, jedes Komitees oder jeder Dimension kollektivieren können. Es gibt immer noch eine Hierarchie, wenn es immer dieselben Leute sind, die zu den Treffen gehen, die zu den Orten der Entscheidungsfindung gehen. Wir müssen diese Hierarchien überwinden, indem wir die Verantwortung teilen. Selbst innerhalb des kleinsten Kerns bräuchte man eine demokratische Aufgabenteilung und Koordinierung oder etwas Ähnliches, so dass jede Person, jedes Mitglied der Einheit seine eigene Verantwortung und seine eigene Rolle hat. Wir versuchen immer noch, das neue System mit unseren alten Verhaltensweisen, mit unserer alten Mentalität zu etablieren, die sehr hierarchisch ist und zu Machtverhältnissen führt usw. Meistens ist es so, dass z. B. 10 Personen in einem Referat arbeiten und nur ein oder zwei Personen zu den Versammlungen gehen. Dies führt zu einer Trennung von praktischer und theoretischer Arbeit, und im demokratischen Konföderalismus geht es darum, alle Trennungen gleichzeitig zu überwinden.
Die kurdische Frauenbewegung organisiert auch Frauenkonferenzen in der MENA-Region. Steht dieser Prozess im Zusammenhang mit der Idee, den Demokratischen Weltfrauenkonföderalismus aufzubauen? Wie hängt dieser regionale Weg mit den Konferenzen in Deutschland zusammen?
Natürlich gibt es einen Zusammenhang, aber das Thema Naher Osten ist sehr schwierig. Ich meine, obwohl wir eine Frauenbewegung des Nahen Ostens sind und obwohl wir viele Kontakte im Nahen Osten haben und manchmal Leute aus unserer Bewegung in die Länder des Nahen Ostens reisen, usw., müssen wir unsere Beziehungen zu den Frauenorganisationen des Nahen Ostens noch weiter vertiefen. Du weißt, dass das herrschende System im Nahen Osten sehr stark in die Sphäre der Frauenbewegungen oder -Organisationen eingegriffen hat, insbesondere dort, wo Krieg herrschte, aber auch an anderen Orten. Es gibt ein Phänomen, das als „NGO-isierung“ der Frauenbewegung bezeichnet wird, worüber Selay auf der ersten Konferenz am Beispiel Afghanistans gesprochen hat. Sie erklärte, dass staatliche Sponsoren und NGO-Stiftungen versuchen, die authentische Frauenbewegung Afghanistans zu zerstören und sie durch elitäre Frauen-NGOs zu ersetzen, die von Europa oder anderen Ländern finanziert werden und eine Agenda verfolgen, die nichts mit der der Frauen an der Basis zu tun hat. Das gleiche Problem haben wir im Irak und in Südkurdistan, und mehr oder weniger in der gesamten arabischen Welt. Das ist ein so großes Problem. Mir war nicht bewusst, dass die kapitalistische oder westliche Hegemonie über Frauenorganisationen so stark eingreift. Diese Nichtregierungsorganisationen sind zu einer Finanzquelle für Frauen geworden, die über die nötigen Fähigkeiten verfügen und die Sprache sprechen und so weiter. Sie verdienen eine Menge Geld, aber innerhalb der Gesellschaft ändert sich nichts. Es wird ein sehr liberaler Ansatz gefördert. Das ist das eine Problem. Ein weiteres Problem ist, dass wir im Nahen Osten die Theorien von Öcalan stärker verbreiten müssen. Wenn man es mit Europa vergleicht, kennen die Menschen in der EU Öcalan besser, weil die kurdische Bewegung mehr als 40 Jahre Erfahrung und eine lange Organisationsgeschichte hat, so dass wir viele Kontakte haben. Im Nahen Osten hingegen hat die Bewegung erst vor ein paar Jahren begonnen, sich ernsthaft zu engagieren. Wenn ich von Nahost spreche, meine ich nicht nur den Libanon, denn hier war die PKK sehr stark verwurzelt, weil die Parteizentrale bis 1992 dort war und Öcalan dort seinen Sitz hatte. Im Libanon hatten sie also viele Beziehungen, aber nicht in Ländern wie Ägypten, Tunesien oder anderen. Es ist also ein Prozess, den wir gerade erst begonnen haben, und wir haben zum Beispiel während der Konferenz festgestellt, dass wir und die Frauenbewegungen aus dem Nahen Osten, einige Probleme mit der Terminologie haben, als ob wir verschiedene Sprachen sprechen würden. Wenn wir zum Beispiel über Faschismus sprechen, sagen die anderen: „Mein Gott, du nennst Erdogan einen Faschisten“. Oder wenn wir über Nationalismus in einer negativen Weise sprechen, ist Nationalismus für viele Frauen etwas, das ihre Identität konstruiert, es ist wichtig. Oder wenn wir über Frauenbefreiung sprechen, bevorzugen sie eher liberale Begriffe, und in gewisser Weise hat uns das gezeigt, dass wir mehr ideologische Arbeit zusammen leisten müssen. Und wenn wir von ideologischer Arbeit sprechen, dann bedeutet das, dass wir mehr Gelegenheiten schaffen müssen, um mit Frauen aus dem gesamten Nahen Osten über die Frauenfrage zu sprechen. Wie verstehen wir die Frauenfrage? Wie verstehen wir das patriarchalische System? Wie verstehen wir den Nationalstaat? Am Ende der Konferenz wurde der Beschluss gefasst, eine Art Bündnis mit dem Namen „Demokratische Allianz der Frauen aus Nordafrika und dem Nahen Oste“ zu gründen. Dieser Prozess ist fast abgeschlossen, denn die Idee war, jedes Land, das an der Konferenz teilgenommen hat, zu bitten, eine Vertreterin zu wählen, die an einem Ausschuss teilnimmt und sechs Monate lang für diesen Ausschuss arbeitet, um die Grundsätze, die Agenda und den Fahrplan dieses Bündnisses festzulegen, und dieser Prozess ist, soweit ich weiß, gerade abgeschlossen. Jetzt werden sie mit der praktischen Arbeit beginnen, sich bekannt machen usw. Sie haben in den letzten sechs Monaten sehr intensiv darüber nachgedacht, wie sie zusammenarbeiten können, und ich denke, am Ende ist der Rahmen der demokratische Konföderalismus, auch wenn sie diesen Namen vielleicht nicht verwenden.
Der Vorschlag für die MENA-Konferenz kam von der kurdischen Frauenbewegung, richtig? Wie habt ihr auch in diesem Fall die Teilnehmerinnen ausgewählt? Gab es bereits Bündnisse, die ihr stärken wolltet? Oder habt ihr auch neue Organisationen eingeladen?
Im Jahr 2013 fand die erste MENA-Konferenz in Diyarbakir statt. Dieses Mal konnten wir also auf die Kontakte derjenigen zurückgreifen, die schon vorher teilgenommen hatten, und dann gab es noch mehr Kontakte. Denn vor der Konferenz reisten Delegationen kurdischer Frauen in verschiedene Länder wie Ägypten, Tunesien, Marokko, Jordanien und trafen sich mit den Frauenorganisationen, die bereits an der ersten Konferenz teilgenommen hatten, und auch mit anderen Organisationen, die sie entweder von irgendwoher kannten oder von denen sie gehört hatten. Im Vorfeld der Konferenz haben die verschiedenen Delegationen also eine Menge Kontakte geknüpft und Treffen organisiert.
Was ist mit den Frauen, die auf lokaler Ebene arbeiten? Sind sie auch an diesen transnationalen Netzwerken beteiligt oder ist das eher eine individuelle Arbeit der Verantwortlichen in diesem Bereich, wie Sie?
Nein, wir beziehen immer alle um uns herum ein. Wenn wir zum Beispiel sagen, dass in unserem Ausschuss oder in unserer Vereinigung eine Person für diese Arbeit verantwortlich sein soll, dann kommen wir vor jeder Sitzung oder jeder Diskussion zusammen, treffen uns und diskutieren über dieses Thema und versuchen, uns eine gemeinsame Meinung zu bilden. Die Arbeit wird entsprechend dieser Meinung erledigt. Wir sagen nicht: „Das ist meine Verantwortung und ich mache es allein“, sondern wir tauschen uns bei den Treffen immer aus und holen uns verschiedene Ideen. Denn vielleicht denke ich nicht an etwas, an das eine andere vielleicht denkt. Es ist sehr wichtig, seinen Arbeitsstil zu ändern, um eine individualistische Herangehensweise zu überwinden. Manchmal ist unsere Arbeit so individualistisch, dass wir alles auf unsere eigene Person konzentrieren, so dass, wenn ich zum Beispiel morgen krank werde, meine Arbeit einfach verschwindet. Jemand mit einem individualistischen Ansatz sieht nicht die Stärken einer kollektiven Bewegung und hat nicht das Bedürfnis, die Kollegen zu fragen, was sie über ein Thema denken. Oder man sagt: „Ok, diese Person ist klüger, also werde ich sie fragen, nicht die andere, die nicht intelligent ist, die keine Ahnung von Europa hat, die immer auf dem Dorf gelebt hat … die brauche ich nicht zu fragen, denn sie wird es nicht wissen“. Diesen Ansatz müssen wir überwinden, wir müssen unsere Verhaltensweisen, unsere Denk- und Arbeitsweise ändern. Wir müssen bei uns selbst anfangen, um etwas Neues oder Demokratisches zu schaffen.
Wie passt Jineolojî, die Wissenschaft der Frauen und des Lebens, in diesen Prozess? Ich meine, die ganze Jineolojî-Bildungsarbeit, ist sie auch Teil davon?
Die Jineolojî-Komitees sind natürlich bei der Vorbereitung der Konferenz vertreten. Sie sind eigenständig. Es ist für uns sehr wichtig, dass die Konferenz selbst auf dem Ansatz der Jineolojî basiert, und dass die Jineolojî Ideen und Überlegungen für diese Arbeit einbringen kann, um Fragen zu beantworten wie: Was sind die Probleme der Frauen weltweit? Ausgehend von der Jineolojî sagen wir, dass es wichtig ist, dass wir als Frauen einen alternativen Weg der internationalen oder transnationalen Zusammenarbeit schaffen. Es sollte nicht die schlechte Kopie des bürokratischen Mannes sein, mit seinem Rauchen und seiner bürokratischen Tasche, nein. Wir sollten das wirklich ändern. Alle unsere Gemeinschaften und unsere transnationalen Delegationen sollten die Bewegung selbst, ihr Wesen und all die verschiedenen Elemente innerhalb der Bewegung repräsentieren oder widerspiegeln. Als Mitglied der Zeitschrift der Jineolojî denke ich, dass wir sehr gut darin sind, die Geschichte zu erforschen und über Situationen nachzudenken, aber wir sind immer noch schwach darin, Lösungen zu finden. Ich denke, das ist etwas, wo wir vielleicht mehr zusammenarbeiten sollten zwischen Jineolojî und, sagen wir, Foreign Relations. Denn in diesem Prozess des Aufbaus eines Weltfrauenkonföderalismus spielt Jineolojî eine Hauptrolle bei der Suche nach Vorschlägen und Lösungen: Wie soll der demokratische Frauenkonföderalismus funktionieren? Wie sollten die Mechanismen aussehen? Wie sollten die Beziehungen zwischen den Frauengruppen aussehen? Wie kann das Gleichgewicht zwischen dem Lokalen und dem Transnationalen oder dem Universellen hergestellt werden? Ich denke, Jineolojî sollte sich mehr bemühen, Antworten auf diese Fragen zu finden. Denn, und das sehe ich auch, wenn ich Artikel schreibe, es ist so einfach, zu recherchieren und etwas in seinem historischen Kontext zu zeigen, aber es ist schwieriger, Lösungen vorzuschlagen. Unsere Rolle, und insbesondere die der Jineolojî, besteht nicht nur darin, etwas zu beschreiben. Wir müssen Antworten auf Fragen finden, und dafür müssen wir uns mehr anstrengen. Die eine Hälfte unserer Arbeit besteht darin, die Wurzeln der Probleme zu erforschen, aber die andere Hälfte besteht darin, einen Blick auf die Zukunft zu werfen. Welche Art von Zukunft wollen wir und wie werden wir sie erreichen? Wir als Jineolojî sollten in dieser Hinsicht ehrgeiziger sein. Denn das ist auch einer unserer Hauptkritikpunkte an der gegenwärtigen Wissenschaft: Wir sagen, dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist, Lösungen für die Probleme und Fragen der Gesellschaft zu finden, also sollte ein alternativer Ansatz der Wissenschaft dazu in der Lage sein. Wir sollten uns zum Beispiel fragen, wie wir transnationale Frauensolidarität wirklich definieren. Vor ein paar Tagen habe ich mit einer Genossin aus Afghanistan gesprochen, die das Land verlassen musste. Vor dem Taliban-Regime war sie immer bedroht, weil sie eine Person war, die immer sehr radikal im Kampf war. Da es für sie nicht mehr sicher war, traf sie die Entscheidung, das Land zu verlassen, aber sie fühlte sich sehr schlecht dabei. Ich habe ihr gesagt, dass sie schon viele Opfer für den Kampf gebracht hat, und manchmal ist das Opfer, sein Land zu verlassen. Wissen Sie, wir sagen immer: „Solange man kämpft, lebt man“, und ich denke, es ist nicht so wichtig, wo man ist. Ich habe ihr gesagt, dass es besser wäre, wenn sie in Afghanistan wäre, aber unter den derzeitigen Umständen kann sie dort nicht arbeiten und kämpfen. Ich habe ihr auch gesagt, dass es für uns sehr wichtig ist, die afghanische Frauenbewegung in diesen Aufbauprozess des demokratischen Konföderalismus einzubinden, weil wir alle sehr, sehr wütend darüber waren, was 2021 in Afghanistan passiert ist, und wir haben versucht, unsere Solidarität zu zeigen. Und ich denke, es war wichtig, dass die kurdische Frauenbewegung nicht mit Erklärungen auftrat, sondern dass wir uns auf eine konkretere Weise mobilisierten. Wir haben protestiert, wir haben Aktionen gemacht, aber in jedem Fall konnten wir den Frauen dort nicht wirklich helfen. Um also auf die Idee des Frauenkonföderalismus oder der transnationalen Frauensolidarität zurückzukommen. Ich meine, was ist Solidarität? Geht es nur darum, Erklärungen abzugeben oder auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren, damit man sich besser fühlt, weil man etwas getan hat, aber man konnte nicht wirklich etwas ändern? Die Situation der afghanischen Frauen hat mich dazu gebracht, viel über konkrete Möglichkeiten des gemeinsamen Kampfes nachzudenken, über Frauensolidarität und darüber, was wir meinen, wenn wir von Solidarität sprechen. Es hat mir gezeigt, dass es noch viel zu tun gibt, um Dinge zu verändern, um als Frauen in die Weltpolitik einzugreifen. Es geht nicht nur um Proteste. Wir brauchen Wege, um die Situation und die Realität vor Ort zu beeinflussen.