Gelebte Zukunft

Wir hätten eine fünfzigprozentige Chance auf ein Weltsystem, das uns lieb ist, schrieb der Sozialwissenschaftler und Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein, der im September dieses Jahres verstarb, in seiner letzten Kolumne. Wallerstein hatte eine enorme Bedeutung für das Paradigma und die politische Strategie der kurdischen Freiheitsbewegung. Er trug mit seinen Analysen maßgeblich dazu bei, die Welt des 21. Jahrhunderts mit ihren großen Kämpfen, großen Ungewissheiten und großen Fragen zu verstehen. Seine Hauptthese lässt sich so zusammenfassen, dass das moderne Weltsystem, in dem wir leben, nicht mehr weiterbestehen könne, weil es sich vom Gleichgewicht zu weit entfernt habe und den Kapitalisten nicht mehr die Möglichkeit böte, unablässig Kapital anzuhäufen. Auch hätten die Unterschichten den Glauben verloren, dass die Geschichte auf ihrer Seite steht und die Welt ihren Enkeln gehört. Er betonte: »Wir leben in einer Strukturkrise, in der es einen Kampf um das Nachfolgesystem gibt. Auch wenn der Ausgang nicht vorhersehbar ist, können wir sicher sein, dass in den kommenden Jahrzehnten die eine oder andere Seite gewinnt und dass ein neues, einigermaßen stabiles Weltsystem hergestellt wird (oder ein Komplex von Weltsystemen). Was wir tun können, ist, die historischen Optionen zu analysieren, unsere moralische Entscheidung zu treffen, worin der bessere Ausgang besteht, und politisch die bestmöglichen Strategien abzuwägen, um dorthin zu gelangen.«

Auch die kurdische Freiheitsbewegung spricht von einem globalen Neuordnungsprozess, der sich im Mittleren Osten als ein Dritter Weltkrieg bezeichnen lässt. In dieser von Chaos geprägten Phase brechen die ehemaligen Gleichgewichte zusammen und es herrscht ein Machtkampf um eine neue Ordnung. Im Mittleren Osten begann diese Phase mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus, was dem Ende der bipolaren Weltordnung gleichkam. Dabei entstand hier durch den Rückzug der Sowjetunion ein Machtvakuum, das seitdem Anlass für brutale und kriegerische Auseinandersetzungen in der Region ist. Ein Ende dieser Phase der Neuordnung scheint noch nicht in Sicht.

Dieser sogenannte Dritte Weltkrieg, der sich geographisch auf die Region des Mittleren Ostens fokussiert – mit Kurdistan als Herzstück –, hat jedoch nicht denselben Charakter wie die beiden Weltkriege davor. Statt es mit zwei von einem Eisernen Vorhang getrennten verhärteten Fronten und Systemen zu tun zu haben wie noch zu Zeiten der bipolaren Weltordnung, hat sich mit der Transformierung des globalen Kapitalismus auch der Charakter der politischen und wirtschaftlichen (Macht-)Kämpfe verändert. In der gegenwärtigen multipolaren Weltordnung kann man vielmehr von einer Fortsetzung des Kalten Krieges unter entideologisierten Umständen sprechen – reduziert auf die Kategorien blanker nationalstaatlicher Konkurrenz. Bildlich gesprochen nannte es der US-Stratege Zbigniew Brzeziński das »große Schachbrett«. Als Hauptschauplatz künftiger Machtkämpfe hatte er hierbei »Eurasien« im Blick – den riesigen Landkomplex, den Europa und Asien zusammen bilden. Auf diesem Schachbrett werde der Kampf um die globale Vorrangstellung geführt werden.

Der Mittlere Osten

Auf dem heutigen Hauptschauplatz, dem Mittleren Osten, kann man zwischen drei Akteuren differenzieren, die mit jeweils unterschiedlichen Zielen agieren. Zum einen bilden die internationalen Akteure, allen voran die USA, einen Block. Die USA verfolgen seit Beginn der 1990er Jahre das Ziel, die Region entsprechend des »Greater Middle East Project« (GME) neuzustrukturieren. Das GME wurde als Alternative zum Machtvakuum nach dem Zerfall des Realsozialismus entwickelt und soll die Region im Sinne des Neoliberalismus umstrukturieren. Ein Blick auf die blutigen Folgen dieser Politik der letzten dreißig Jahre in Ländern wie Irak, Afghanistan, Libyen, Syrien lässt erahnen, wie es den Gesellschaften in der Region ergangen ist und weiterhin ergeht. Der zweite Bereich von Akteuren repräsentiert die bestehenden Nationalstaaten, die sich allesamt den Umgestaltungsbemühungen des GME widersetzen. Stattdessen bestehen sie auf der vor hundert Jahren nach dem Sykes-Picot-Abkommen implementierten Ordnung. Zum Teil widersetzen sie sich sowohl dem Druck von »oben« als auch dem Druck von »unten«. Beispiele für diese Kategorie sind Staaten wie die Türkei und der Iran. Den dritten Akteur bilden die gesellschaftlichen Kräfte. Sie werden heute im organisatorischen Sinne vor allem von der kurdischen Freiheitsbewegung repräsentiert, die mit der Entwicklung des Modells des demokratischen Konföderalismus eine Alternative zum Greater Middle East Project darstellt.

Da der Kampf um die globale und regionale Vormachtstellung einen Konflikt innerhalb des kapitalistischen Systems darstellt, wurde er bislang noch als Stellvertreterkrieg geführt. Staaten wie die USA, Russland, der Iran oder die Türkei haben im seit über sieben Jahren andauernden Syrien-Krieg lokale Verbündete aufgebaut und/oder unterstützt, um politischen und militärischen Einfluss in der Region auszuüben. Beispiele für diese Stellvertreterpolitik sind verschiedenste islamistische Gruppen wie der Islamische Staat oder die Al-Nusra-Front, die von Staaten wie der Türkei und Saudi-Arabien benutzt werden, wie auch die dagegen vom Iran unterstützten schiitischen Haschd-al-Schaabi-Milizen. Der strategische Sieg über den IS in Raqqa Ende 2017 markierte auch das Ende dieses Stellvertreterkriegs und den Beginn einer neuen Phase, in der sich nun Staaten wie die USA, Russland und europäische Länder direkter und aktiver am Ort des Geschehens einmischen.

So steht der fünfte Astana-Gipfel am 17. September in Ankara exemplarisch für die Versuche Russlands, sowohl Syrien und den Iran auf seine Seite zu ziehen, um im Mittleren Osten seinen Einfluss auszubauen, als auch die Widersprüche zwischen der Türkei und den USA und der Europäischen Union zu vertiefen und zu seinen Gunsten auszunutzen. Darüber hinaus lockte Putin den engen US-Verbündeten im Mittleren Osten Saudi-Arabien mit dem Angebot, das S-400-Raketenabwehrsystem zum Schutz vor Drohnenangriffen zu kaufen.

Die USA hingegen versuchten ihren Einfluss in Syrien zu vergrößern, indem sie auf der einen Seite mit der Türkei und auf der anderen Seite mit den Kurden in Nordsyrien Beziehungen pflegten. Sie waren in Nordsyrien in einer widersprüchlichen Position. Bis kurz vor Beginn des Angriffskrieges der Türkei gegen die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien am 9. Oktober lavierten sie zwischen der türkischen und der kurdischen Seite. Ein Aspekt der Türkei-Politik der USA war immer das Ziel, den Einfluss der freiheitlichen Ideen des demokratischen Konföderalismus abzuwehren und eine kurdische Region nach eigenen Vorstellungen zu formen. Die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien erklärte dazu mehrmals, unter keinerlei Druck auf ihr demokratisches System einzuknicken und gegen die Vernichtungspläne der Türkei ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch zu nehmen. Mit Beginn des Krieges zwischen der türkischen Armee mit ihren islamistischen Verbündeten und den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) hat sich dieses Szenario bewahrheitet. Darüber hinaus dürfen die in den letzten Monaten zunehmenden Drohungen der USA gegen den Iran nicht nur als ein Konflikt allein zwischen den USA und dem Iran betrachtet werden. Letzterer ist gegenwärtig der zentrale Bündnispartner Russlands in der Region und spielt hier für das Gleichgewicht eine entscheidende Rolle.

Der politische Stil der kurdischen Freiheitsbewegung

Für die kurdische Freiheitsbewegung stellt sich inmitten dieses brutalen nationalstaatlichen Konkurrenzkampfs die Frage nach ihrer politischen Strategie. Denn mit den negativen Erfahrungen aus realsozialistischer Praxis und Niedergang der Sowjetunion, mit der Demaskierung der Sozialdemokratie im kapitalistischen Westen als integraler Bestandteil kapitalistischer Herrschaft und den nationalen Befreiungsbewegungen im Süden als neue Herren stellt sich für antisystemische Bewegungen wie die kurdische die Strategiefrage. Die zweistufige Handlungsagenda der antisystemischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, erst die Macht im Staat zu erlangen und dann die Welt/den Staat/die Gesellschaft zu transformieren, ist überholt. Wie die zapatistische hat es auch die kurdische Freiheitsbewegung mit ihrem Konzept des demokratischen Konföderalismus geschafft, sich zu erneuern und ihre politische Taktik und Strategie an die neuen Merkmale des 21. Jahrhunderts anzupassen – während eine Vielzahl von Organisationen aufgrund ihres Dogmatismus in der Bedeutungslosigkeit versunken sind.

In diesem Zusammenhang lässt sich auch die gegenwärtige Politik der kurdischen Freiheitsbewegung besser verstehen. Ohne Zweifel liegen der türkische Angriffskrieg gegen alle Errungenschaften in Nordsyrien, die anhaltende völkerrechtswidrige Besatzung im nordsyrischen Kanton Efrîn, das seit fast drei Monaten bestehende Embargo gegen das Flüchtlingscamp Mexmûr im Nordirak und die Besatzungspolitik des türkischen Staates in Südkurdistan im gemeinsamen Interesse von USA, EU und Regionalstaaten. Dass die imperialistischen Staaten ein offenes militärisches Bündnis mit den Demokratischen Kräften Syriens eingegangen sind, bedeutete nicht, dass dieselben Kräfte die demokratische Selbstverwaltung und deren System des demokratischen Konföderalismus auch ideologisch und politisch anerkennen. Ganz im Gegenteil ist es das Ziel der Angriffe, die kurdische Freiheitsbewegung von ihrer eigenen demokratischen Linie abzubringen und das in Nordsyrien, Mexmûr und Şengal im Aufbau befindliche demokratisch-autonome System von innen heraus zu untergraben und ins eigene System zu integrieren. Was es für die kurdische Freiheitsbewegung bedeutet, wenn sie sich nicht beugt und keine Zugeständnisse macht, hat der von der Türkei begonnene Krieg gegen Rojava allen vor Augen geführt.

Die internationalen und regionalen Kräfte haben aus zwei Gründen Beziehungen mit der kurdischen Freiheitsbewegung aufgenommen. Erstens waren mit dem Islamischen Staat die eigenen Interessen in Gefahr. Da die Bewegung objektiv gegen diese bedrohliche Kraft kämpfte, waren sie in dieser Situation auf sie angewiesen. Der zweite Grund war die Sorge dieser Kräfte, dass sich infolge des erfolgreichen Widerstands der Bewegung das demokratisch-konföderale System in der Region ausbreitet. Die aufgenommenen Beziehungen beabsichtigen dies zu verhindern. Das taktische Bündnis hatte für beide Seiten keine strategische Bedeutung und das parallele Agieren Rojavas mit der internationalen Koalition und den USA sowie im Zuge des Krieges mit dem Assad-Regime und Russland bedeutete nicht, dass es in allen Punkten eine Einigung gab. Der getroffene Kompromiss war nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Widersprüche und dem Einfrieren des Kampfes. Anders ist nur die Art und Weise sowie die Methodik des Kampfes.

Die gegenwärtige Politik der kurdischen Freiheitsbewegung in Rojava ist vielmehr ein Beispiel für linke Politik in einem mehrdimensionalen Konflikt innerhalb einer multipolaren Ordnung. Anstatt einen dogmatischen, realsozialistischen Politikstil zu pflegen, hat sich die kurdische Freiheitsbewegung in Rojava auf einen durch das Chaos in der Region ermöglichten »Nahkampf« eingelassen. Sie stützt sich dabei auf ihre eigene Kraft, hegt keine falschen Erwartungen an diese Staaten und lässt sich nicht für die Interessen Dritter instrumentalisieren. Stattdessen nutzt sie selbstbewusst die durch den Widerstand geöffneten diplomatischen Türen. Diese von Abdullah Öcalan als »dritter Weg« definierte politische Praxis und in Rojava praktisch angewandte Politik sind in diesem Sinne eine Antwort auf die Krise der linken Politik, eine revolutionäre Intervention.

Die Türkei zwischen den beiden Seiten einer Medaille gefangen

Dass auch die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei diesen Politikstil zur Grundlage nimmt, wurde zuletzt deutlich bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 und der wiederholten Istanbuler Oberbürgermeisterwahl am 23. Juni. So wie sich die HDP bei diesen Wahlen wieder ihre eigene Haltung bewahrt hat, wird sie sich auch in Zukunft darauf fokussieren, einen breiten demokratischen Pool zu schaffen gegen den heute vom Bündnis der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) dargestellten islamisch-konservativ-nationalistischen Block wie auch gegen den durch die CHP (Republikanische Volkspartei) repräsentierten laizistisch-nationalen Block. Denn die Art der Annäherung an die kurdische Frage als essentielle Demokratiefrage der Türkei ist bei diesen Blöcken dieselbe. Das seit 2016 auf parlamentarischer Ebene bestehende AKP-MHP-Bündnis verhält sich seit dem Abbruch der Verhandlungsphase wie eine Kriegskoalition, die tagtäglich die kurdische Gesellschaft terrorisiert. Die CHP als Gegenspielerin lässt in ihrer Haltung zur kurdischen Frage praktisch keine Abgrenzung zur Regierungspolitik erkennen. So sprach sich CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu gegen Straßenproteste aus, die sich gegen die Zwangsverwaltungen und die Massenfestnahmen von HDP-Aktivisten richteten. Auch die militärische Intervention der türkischen Armee gegen die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien findet die Unterstützung der CHP, genauso wie bereits die völkerrechtswidrige Besatzung in Efrîn von den türkischen »Sozialdemokraten« begrüßt worden war. Zur von der CHP veranstalteten Friedenskonferenz für Syrien am 28. September in Istanbul wurden alle möglichen Kreise eingeladen außer kurdischen Vertretern wie der Partei der Demokratischen Einheit (PYD). Während des anhaltenden Krieges in Nordsyrien war und ist auch die CHP auf vollem Kriegskurs.

Auch wenn die Austritte des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu und des ehemaligen Außenministers Ali Babacan deutlich zum Ausdruck bringen, dass es innerhalb der AKP brodelt, bedarf es für eine demokratische Transformation der Türkei mehr als Brüchen in der herrschenden Elite. Abdullah Öcalan schätzt die aktuellen Möglichkeiten zur Demokratisierung der Türkei so ein, dass eine Regenbogen-Koalition vieler sozialer Bewegungen und Organisationen am ehesten in der Lage sein wird, in der kommenden Phase bedeutende Veränderungen in Richtung einer demokratischeren und egalitäreren Gesellschaft durchzusetzen. Dieses demokratische Bündnis wird heute von der HDP repräsentiert, die trotz der staatlichen Repression Diskurse für eine neue demokratische Verfassung zu führen versucht. Öcalan formuliert dazu in seiner Roadmap für die Demokratisierung: »Obwohl die Demokratisierung einen politischen Prozess darstellt, kann sie ohne eine durch gesellschaftlichen Konsens entstandene Verfassung nicht zu einer dauerhaften und systematischen Regierungsform werden. Demokratische Verfassungen sind der Ausdruck eines Kompromisses zwischen demokratischer Gesellschaft und Staat.«

Zwangsverwaltungen als Durchsetzung der neoliberalen Ordnung in Nordkurdistan

In diesem Kontext hat sich das AKP-MHP-Bündnis am 19. August 2019 mit der Installierung von Zwangsverwaltungen an der HDP gerächt, die bei den vergangenen Wahlen einmal mehr bewiesen hatte, dass sie das einzige Hindernis für die vollständige Institutionalisierung des autoritären türkischen Regimes ist. Mit dieser von der HDP als »politischer Putsch« definierten Praxis wurden die drei Bürgermeister von Amed (Diyarbakır), Wan (Van) und Mêrdîn (Mardin) ihres Amtes enthoben. Begleitet wurde die Durchsetzung der Zwangsverwaltungen von einer Propagandakampagne in den türkischen Medien, die von der HDP verwalteten Kommunen würden die PKK finanzieren. Das patriarchale AKP-System beschuldigt die HDP, mit dem Prinzip der Doppelspitze auf Anordnung der PKK eine nicht verfassungsgemäße politische Struktur eingeführt zu haben. Die vom türkischen Innenministerium etablierte Zwangsverwaltung in den HDP-geführten Provinzhauptstädten ist auch im Kontext des von David Harvey als Kategorie des neuen Imperialismus formulierten Terminus »Akkumulation durch Enteignung« zu verstehen. Denn die Zwangsverwalter demontierten bereits bei ihrem ersten Einsatz 2014 innerhalb kürzester Zeit die Errungenschaften und Dienstleistungen der Stadtverwaltungen. Zuvor belastungsfreie Kommunen wurden in tiefe Verschuldung gestürzt. Für Harvey sind die auch in Nordkurdistan betriebene Privatisierung des Bodens, die Umwandlung verschiedener Formen von Eigentumsrechten (öffentlich, kollektiv, staatlich usw.) in exklusive Eigentumsrechte, die Kommodifizierung der Arbeitskraft und die Unterdrückung alternativer (traditioneller) Formen der Produktion und des Konsums sowie koloniale, neokoloniale und imperialistische Prozesse der Aneignung von Vermögenswerten eine wichtige und anhaltende »Kraft der Kapitalakkumulation durch Imperialismus«.

Deutschland: »Eine Weltmacht im Werden«

Die oben geschilderten aktuellen Kämpfe zwischen den großen Mächten finden vor dem Hintergrund tiefgreifender Kräfteverschiebungen auf globaler Ebene statt. Deutschland ist hierbei kein Zuschauer, sondert mischt auf oberster Ebene mit. Deutschland und die EU streben mittlerweile offen danach, sich einen Weltmachtstatus zu sichern und, wie Berliner Politiker es immer wieder formulieren, »auf Augenhöhe« mit den Vereinigten Staaten zu gelangen. So erklärte der deutsche Außenminister Heiko Maas im August 2018, dass die Union »zu einer tragenden Säule der internationalen Ordnung werden« müsse. Regierungsberater und Think-Tanks in Berlin stützen dabei den Weltmachtkurs: Die Bundesrepublik müsse »alles in ihrer Macht Stehende tun«, um die EU als einen »eigenständigen weltpolitischen Machtfaktor (…) zu etablieren«, hieß es zum Beispiel Ende 2017 in einer Analyse der vom Bundeskanzleramt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Offen gegen die US-Politik opponiert haben Deutschland und die EU vor allem in der Iran-Politik. Den Bruch des Atomabkommens mit Teheran durch die Trump-Administration haben sie bis heute nicht nachvollzogen und stattdessen alles darangesetzt, das Abkommen zu bewahren. Gelänge dies, dann hätten Berlin und Brüssel sich auf einem zentralen Konfliktfeld der Weltpolitik als politische Alternative zu Washington profiliert. Deutschland und die EU halten trotz allem an ihrer Opposition zur Iran-Politik der USA fest. Der Forderung, sich an dem geplanten US-Marine-Einsatz im Mittleren Osten zu beteiligen, sind sie nicht nachgekommen. Die Planungen für einen als Alternative zu der US-Intervention gedachten eigenen EU-Marine-Einsatz im Persischen Golf dauern weiterhin an. Deutschland müsse sich daran beteiligen, ihn nach Möglichkeit sogar »führen«, hieß es in einer Stellungnahme aus der SWP – nicht nur »zur Wahrung seiner Interessen«, sondern vor allem auch »zum Erhalt seines außenpolitischen Gestaltungsanspruchs«. Die Abweisung der US-Forderung durch Außenminister Heiko Maas, deutsche Kriegsschiffe in einen US-geführten Marineeinsatz im Mittleren Osten zu schicken, ist also ein Beispiel für die Positionierung Berlins als weltpolitisch eigenständige Macht.

Schema »gute Kurden – schlechte Kurden« auch in der deutschen Außenpolitik

Drei Tage lang tourte die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im August durch Jordanien und den Irak. Sie forderte eine Mandatsverlängerung des Anti-IS-Einsatzes im Nahen Osten. Wenige Wochen nach dem Besuch der CDU-Chefin reiste auch der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Niels Annen (SPD), in den Irak und plädierte für eine weitere Beteiligung der Bundeswehr an der internationalen Mission gegen den IS. Damit zeichnet sich in Hinsicht auf das am 31. Oktober endende Mandat, an dem sich die Bundeswehr mit knapp 300 Soldaten, vier Tornado-Aufklärungsjets und einem Tankflugzeug vom jordanischen Al-Azraq aus beteiligt, ein Kompromiss innerhalb der Großen Koalition ab. Die Bundesregierung hat im Kontext ihres weltpolitischen Gestaltungsanspruchs neben der Bekämpfung des IS wohl einiges mehr im Blick: eine starke deutsche Präsenz in einem vergleichsweise stabilen Teil des Mittleren Ostens. Der Krieg gegen den IS brachte nicht nur den nächsten Einsatz der Bundeswehr, sondern vor allem eine enge militärisch-politische Kooperation mit den Peşmerga und dem Barzanî-Clan. Bei ihrem Besuch im Irak äußerten sich die Verteidigungsministerin und der Staatsminister nicht zum völkerrechtswidrigen Besatzungskrieg der Türkei in Südkurdistan, in dem bereits drei deutsche Staatsbürger ums Leben gekommen sind. Auch das anhaltende Embargo gegen das Flüchtlingscamp in Mexmûr fand keine Erwähnung. Weiterhin ignoriert die deutsche Bundesregierung auch den westkurdischen Nachbarn, die demokratische Selbstverwaltung in Nordsyrien. Bedingungslose Unterstützung für den Krieg gegen die PKK in Nordkurdistan, Schweigen und Lippenbekenntnisse zu grenzüberschreitenden türkischen Militäroperationen in Südkurdistan und dem Krieg in Nordsyrien, Ignoranz gegenüber den Errungenschaften in Rojava, Unterstützung für die kurdische Regionalregierung als Gegengewicht zur kurdischen Freiheitsbewegung sowie Repression gegen die kurdische Freiheitsbewegung und solidarische Kreise in der Bundesrepublik und ihre Kriminalisierung: Das ist die Linie der Bundesregierung in der kurdischen Frage.

Der »Geist von Davos« und das Di-Lampedusa-Prinzip

Neben diesen innerimperialistischen Widersprüchen, die heute die internationale Politik prägen und im Mittleren Osten als ein Kampf aller gegen alle ausgetragen werden, ist Wallerstein zufolge die Welt zunehmend mit einem »Kampf zwischen dem Geist von Davos und dem Geist von Porto Alegre« konfrontiert. Die kurdische Freiheitsbewegung beschreibt ihn als Kampf zwischen zwei Systemen, zwischen der kapitalistischen und der demokratischen Moderne. In diesem Kampf stellen alle Staaten, allen voran die USA, EU-Länder wie Deutschland und Frankreich als auch die regionalen und verfeindeten Nationalstaaten wie die Türkei, der Iran und Syrien ihre innerimperialistischen Widersprüche zurück und unterdrücken jede Systemalternative. Praktisch haben wir dies während des Krieges und der anhaltenden Besatzung in Efrîn gesehen, wobei die gesamte internationale Staatengemeinschaft die Zerschlagung der antikapitalistischen Rätedemokratie aktiv oder passiv unterstützt hat und dies immer noch tut.

Werfen wir einen näheren Blick auf diesen »Geist von Davos«, erkennen wir im Kern dieselben Strategien gegen progressive Bewegungen in Europa und dem Mittleren Osten. Das Lager des »Geistes von Davos« ist kein einheitlicher Block, sondern tief gespalten. Eine Gruppe befürwortet unmittelbare und langfristige Repression und hat ihre Mittel in den Aufbau bewaffneter Organisationen gesteckt, um Opposition zu zerschlagen. Beispiele dafür sind autoritäre Regime wie die Türkei oder Kolumbien. Es gibt jedoch auch eine Gruppe, die Repression auf lange Sicht für unwirksam hält. Sie befürwortet die sogenannte Di-Lampedusa-Strategie (1), alles zu verändern, damit alles beim Alten bleibt. Man spricht von grünem Kapitalismus, mehr Gerechtigkeit, mehr Vielfalt und einem offenen Ohr für die Rebellischen. Die Eliten reagieren auf Forderungen nach Demokratisierung hauptsächlich mit Zugeständnissen, um die Wut zu entschärfen, die Aufrührer zu integrieren, aber den grundlegenden Rahmen des Systems stets zu bewahren.

Diese Strategie ist beispielsweise bei den aktuellen Klima­protesten zu beobachten. Die nun seit über einem Jahr bestehende globale soziale Bewegung »Fridays for Future« hat mit dem globalen Streik am 20. September 2019 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Allein in Deutschland gingen über eine Million Menschen auf die Straße, um für den Klimaschutz zu demonstrieren. Mit dem über die letzten Jahrzehnte hinweg weltweit gereiften ökologischen Bewusstsein entwickelt sich zunehmend auch eine Bewegung, die FFF widerspiegelt. Da das Thema alle Gesellschaften etwas angeht, ist auch die Beteiligung an den Protesten klassenübergreifend und hat einen globalen Charakter. Am selben Tag präsentierte die Große Koalition ihr Klimapaket, zu dem die Bundeskanzlerin persönlich erklärte, dass man »den Weg des Preises« gegangen sei und die Bevölkerung »nicht auf Wohlstand verzichten« müsse. Wieder einmal bedankt sich die politische Elite bei den Protestierenden, dass man die Politik zu diesem Thema endlich wachgerüttelt habe. Das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung verkörpert die Di-Lampedusa-Strategie: Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, müssen wir alles ändern!

Auch das Greater Middle East Project der USA verkörpert das Di-Lampedusa-Prinzip. Das GME ist eine Fortsetzung von Sykes-Picot und sieht nur oberflächliche Korrekturen vor. Denn es setzt als Lösung auf nationalstaatliche Grenzen. Beispielsweise sind aus dem einen Irak Grundlagen entstanden für einen kurdischen, einen sunnitisch-arabischen und einen schiitisch-arabischen Staat. Dasselbe gilt auch für die Rolle Kurdistans in dieser neu vorgesehenen Ordnung. Die kurdische Freiheitsbewegung hat früh erkannt, dass mit dem GME die kurdische Gesellschaft weiterhin für lokale und globale Interessen instrumentalisiert werden soll. Vor allem war es der kurdischen politischen Führung klar, dass der »Großraum Mittlerer Osten«, entwickelt als Alternative zum Vakuum nach dem Zerfall des Realsozialismus, als neue Ordnung vor allem für den Nahen Osten nichts anderes sein würde als die Fortsetzung von Sykes-Picot. Den Kurden werden Zugeständnisse nur gemacht, wenn sie sich in der vorgesehenen nationalstaatlichen und kapitalistischen Logik des »Geistes von Davos« bewegen. In diesem Zusammenhang wird die Bildung eines kurdischen Nationalstaats im Irak in der Schublade aufbewahrt. Wann immer Konflikte zwischen Hewlêr (Erbil) und Bagdad oder Ankara und dem Westen aufkommen, drohen kurdische Politiker im Irak mit einem unabhängigen kurdischen Staat.

Der Geist von Rojava und der Universalismus des demokratischen Konföderalismus

Auch das Lager des »Geistes von Porto Alegre« ist gespalten. Es gibt Bewegungen mit unterschiedlichen Strategien für den Kampf, der sich in Zukunft vor allem an der Staatsfrage herauskristallisieren wird. Während Wallerstein noch Anfang der 2000er schrieb, dass der Kampf zwischen beiden Lagern »unter Umständen noch nicht in das Zentrum der Aufmerksamkeit der meisten Menschen gelangt« sei, stecken im Mittleren Osten heute die Menschen in Nordsyrien in einem gesellschaftlichen Aufbruch, mit dem sie die Systemfrage stellen, und auch in Europa kommt es vor allem im Kontext ökologischer Kämpfe zu einer Bewegung, die breite Gesellschaftsschichten politisiert.

Seit dem Paradigmenwechsel lautet die Devise der kurdischen Freiheitsbewegung: »Wir warten nicht, bis sich etwas tut, sondern packen es selber an!« Mit der Formel »Staat plus Demokratie« wird die Strategie verfolgt, den Staat zu verkleinern und die demokratische Gesellschaft auszuweiten. In Rojava ist dieses theoretische Konzept heute Praxis. Dabei verbindet die Rojava-Revolution die »partikularen Kämpfe« wie Ökologie, Demokratie und Frauenbefreiung in einem ganzheitlichen Kampf.

Übertragen auf die gegenwärtigen Diskurse vor allem im Zusammenhang mit den Klimaprotesten in Europa wird sich an deren Beispiel zeigen, ob die »rebellische Jugend« denselben strategischen Fehler der 68er wiederholt. Mit dem damals von Rudi Dutschke propagierten »Marsch durch die Institutionen« sollte der Staat von innen heraus verändert werden, doch wie der Ökoanarchist Murray Bookchin dazu schrieb: »Rudi Dutschkes Aufruf an den SDS zum ›langen Marsch durch die Institutionen‹ bedeutete letzten Endes kaum mehr, als sich den existierenden Institutionen anzupassen, ohne sich die Mühe zu machen, neue zu entwickeln, und führte zum Verlust Tausender an eben diese Institutionen. Sie gingen hinein – und kamen niemals wieder heraus.«

In diesem Sinne hat sich das Zentrum der globalen Demokratiekräfte nach Rojava verschoben. Denn das Motto des Weltsozialforums in Porto Alegre »Eine andere Welt ist möglich« ist in Rojava nicht mehr bloß die Einschätzung, dass sich das Weltsystem in einer strukturellen Krise befinde und dass politische Optionen real seien, sondern wird hier heute mit Leben gefüllt.


Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896–1957), italienischer Schriftsteller; erlangte Berühmtheit vor allem mit seinem historischen Roman »Il Gattopardo« aus dem Sizilien zur Zeit Garibaldis, aus dem auch das Zitat stammt.