Anlässlich »150 Jahre Pariser Kommune« haben wir als Geschichte & Widerstand (IGW) die Veranstaltungsreihe »Die Kommune – Im Kampf die neue Gesellschaft aufbauen« über die Kommune in ihrer historischen Bedeutung organisiert und ihre Aktualität für unsere heutige Situation diskutiert. Dafür haben wir verschiedene Beispiele aus der Geschichte vorgestellt, u. a. die Münchner Räterepublik, an der Erich Mühsam maßgeblich mitgewirkt hat. Einzelne Teile der Veranstaltungsreihe können auf www.wasistdiekommune.noblogs.org angesehen und angehört werden.
Nur kurze Zeit vor seiner Ermordung durch die Nationalsozialisten veröffentlichte Erich Mühsam 1933 sein vielleicht bedeutsamstes Werk, in dem er seine Erfahrungen der Räterepublik verarbeitet, eine grundlegende Gesellschaftsanalyse vorlegt und konkrete Wege der Organisierung aufzeigt.
In der Online-Veranstaltung zu Mühsam haben wir vor allem über seine Erfahrungen in der Räterepublik gesprochen und welche konkreten Vorschläge er aus diesen ableitet. Hiermit wollen wir euch die Grundlagen seiner Analyse näher vorstellen.
Die Annäherung Erich Mühsams und Abdullah Öcalans an die Probleme der Gesellschaft weist in vielen Aspekten große Ähnlichkeiten auf. Daher verwundert es wenig, dass sie in einigen Punkten zu ähnlichen Schlüssen und Lösungsvorschlägen gelangen. Dabei fußen die Analysen Mühsams auf den Begebenheiten der deutschen Gesellschaft und können somit eine wichtige Ergänzung für uns darstellen.
»Die Gesellschaft ist der Ursprung des Lebens, wie sie zugleich Sinn und Inhalt des Lebens ist«
Zu Beginn ist wichtig zu verstehen, welches Verständnis von Gesellschaft dem Werk zu Grunde liegt. Erich Mühsam geht darin von einem grundsätzlich positiven Menschenbild aus, in welchem der Mensch ein natürliches Gefühl für Recht und Unrecht hat: das sogenannte soziale Bewusstsein. Dieses konnte erst durch einen massiven, jahrtausendelangen Angriff zerstört bzw. geschwächt werden. Die Gesellschaft ist an sich gut und hat eigene, ihr innewohnende Prinzipien und Werte wie Gemeinschaft, Gerechtigkeit und Gegenseitigkeit.
»Föderalismus ist Ausdruck der Gesellschaft, Zentralismus ist Ausdruck des Staates.« Die Organisationsform, die dem Wesen der Gesellschaft entspricht, ist die des Föderalismus »im Gegensatz zum Zentralismus, der die künstliche Organisationsform der Macht und des Staates ist, wie sie der Kapitalismus bis zur restlosen Vernichtung der Persönlichkeit, der Gleichheit, der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und der Gegenseitigkeitsbeziehungen emporgezüchtet hat«. Daraus folgt für Mühsam ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft: Wo die Gesellschaft stark ist, kann der Staat nicht Fuß fassen, »wo aber der Staat ist, er als Pfahl im Fleische der Gesellschaft steckt, […] verhindert [er], Gesellschaft zu sein«.
Gesellschaft und Persönlichkeit sind eins
Mühsam lehnt die Unterscheidung von Gesellschaft und Persönlichkeit grundsätzlich ab. Beide beeinflussen sich gegenseitig in einem Maß, dass die eine nicht losgelöst von der anderen betrachtet werden kann: »[…] jeder Fehler in der Wechselbeziehung der Menschen zueinander muss sich als gesellschaftlicher Schaden, jeder Mangel in der gesellschaftlichen Ordnung als Krankheitserscheinung im sozialen Getriebe und somit als Benachteiligung von Individuen in Erscheinung setzen.« Mühsam beschreibt die Gesellschaft wie das komplexe Zusammenwirken eines Waldes, welcher »eine zur Einheit gewordene Vielheit von Einheiten« darstellt, in dem das komplexe Zusammenspiel aller ein lebendiges System erschafft.
Mühsam beschreibt also ähnlich wie Öcalan Gesellschaftlichkeit als einen Wert, welcher gewissermaßen der Natur des Menschen entspricht.
Staat, Zentralisation und das Wesen der Macht
In der Analyse der Probleme der Gesellschaft kommt Erich Mühsam zu einem grundlegenden Problem: Macht. Er sieht Macht als die Wurzel aller Probleme, die in Staat, Zentralisation und Nationalismus ihren Ausdruck finden und einen schweren Angriff auf die Gesellschaft darstellen.
Um zu verstehen, wie Macht wirkt und wo sie ihren Einzug in die Gesellschaft finden konnte, untersucht Mühsam die Geschichte der Zivilisation, um bis an den Ursprung der Entstehung von Macht zurückzugehen: die Entstehung des Patriarchats.
Die natürliche Gesellschaft lebt nach dem Prinzip des Mutterrechts, wie Mühsam es nennt. Sie kennt kein Vaterrecht, denn nur die Mutter weiß sicher, dass das Kind von ihr stammt und so wird die Gemeinschaft um die Mutter herum organisiert. Zu dieser Zeit glaubten die Menschen an eine beseelte Natur, in der alles lebendig ist. Dieses mythologische Denken fängt an sich zu verändern, als die Idee des Ein-Gott Einzug hält. Fortan wird alles Göttliche auf eine männliche Vaterfigur ausgelagert, womit gleichzeitig erstmals eine Abgabe von Verantwortung der Gemeinschaft an eine außenstehende (göttliche) Figur auftritt. Als Vermittler zwischen diesem männlichen Ein-Gott treten die Priester als Stellvertreter des allmächtigen Göttlichen auf. Und dies ist der Zeitraum, welchen Mühsam als Eintritt der Macht in die Gesellschaft analysiert. Fortan wird das Mutterrecht durch das Vaterrecht ersetzt, die Frau verliert an Einfluss, während die Priester an Macht gewinnen. Eine Sünde wird nunmehr nicht mehr in ihrem Verhältnis zur Gemeinschaft gemessen, sondern in ihrem Verhältnis zu Gott. Werte wie Gerechtigkeit und Unrecht werden ersetzt durch Gesetze, die bestimmen, was erlaubt und verboten ist. Der Nationalstaat ist für Mühsam die extremste Form dieser Entwicklung, denn »es liegt im Wesen der Macht, nicht nur ihre Erhaltung mit allen Mitteln zu verteidigen, sondern sich materiell und ideell immer stärker zu machen«.
»Das Einzige, was wir verlieren müssen, ist unsere Angst«
Weiter analysiert Mühsam, dass die neue Macht der Priester nur durch den Angriff auf das Selbstgefühl und die Selbstbestimmung der Menschen gefestigt werden kann. Als wirksames Mittel dafür erwies sich den Priestern die Angst. Mit dem Einzug des Ein-Gott kam auch die Angst vor diesem. »Wer aber einmal Gottesfurcht gelernt hat, der wird auch Priesterfurcht, Königsfurcht, Gesetzesfurcht und Eigentumsfurcht lernen und sich nach Belieben regieren lassen.«
»Die Wurzel des Staates aber ist die Familie«
Eine besondere Bedeutung bei der Entwicklung von Macht und der Entstehung des Staates sieht Mühsam in der Familie: »Die obrigkeitlich geschützte und nach einheitlichen Grundsätzen geregelte Familie ist Muster und Sinnbild der Zentralisation, vollendete Verkörperung des Machtgedankens, im engen Umkreis Modell von Kirche und Staat, Urform und Inbegriff ausübender und hinnehmender Autorität.« Doch wie hängt die Entstehung der Familie mit der Entwicklung des Patriarchats zusammen? Mühsam schreibt:
»Die Beziehung der Geschlechter, […] musste, um der Macht dienstbar werden zu können, im Gewissen der Menschen zum Herd ständiger innerer Not gemacht werden.« Dies gelang nur dadurch, dass Sexualität und Begehren mit Beginn des Priestertums als Sünde inszeniert wurden. »Mit Hilfe der unbezweifelbaren und unentrinnbaren Autorität Gottes wurde den Menschen weisgemacht, die Befriedigung ihres Geschlechtstriebes könne von der Brandmarkung als Laster nur befreit werden, wenn sie sich innerhalb der Bindung der beiden Eheteilhaber als pflichtmäßige Zweckhandlung zu Kindererzeugung vollziehe; diese Bindung müsse auf Lebenszeit geschlossen werden, bedürfe der Zustimmung und Abstemplung durch Kirche und Staat, und jede körperliche Vereinigung […] außerhalb der genehmigten Ehe sei sträfliches Tun. […] Die Sicherung dieser Bindung erfolgte durch die naturwidrige Erhebung der Vaterschaft zum geschützten öffentlichen Rechtsgut.«
Um dieses System der Familie nach dem Vaterrecht abzusichern, wurde der Erzeuger mit zentralen Machtbefugnissen über seine Familie ausgestattet. Die ursprüngliche Bedeutung von Familie ist dementsprechend: die Gesamtheit der unter einem dominus stehenden Sklaven. »Wer aber irgendwo Sklavenhalter oder Sklave sein kann, der kann es überall sein und wird es überall ein.«
Wie wir mittlerweile wissen, fand diese Phase in der Hexenverfolgung ihren traurigen Höhepunkt, wodurch deutlich wird, dass zur Durchsetzung dieser Gesellschaftsordnung weit mehr gehörte als das Einpflanzen eines schlechten Gewissens; vielmehr mussten die Herrschenden zu Gewalt und Terror greifen. Auf diesen Aspekt geht Mühsam allerdings nicht weiter ein.
Die hierarchischen Beziehungen zwischen Mann und Frau und die Unterdrückung der Frau sind für Mühsam nichtsdestotrotz die zentralen Momente der Entstehung von Herrschaft und Macht. Er sieht hier somit einen zentralen Ansatzpunkt für den Kampf um eine befreite Gesellschaft.
»Wer aber im Tode in den Himmel will, der will im Leben an die Macht«
Ein Punkt, auf den Mühsam sehr ausführlich eingeht und den er für sehr wichtig hält, ist die Beziehung zwischen Staat und Kirche. Mühsam kommt zu dem Schluss, dass der Staat auf den Einfluss der Kirche angewiesen ist, um beherrschbare Persönlichkeiten zu erhalten. Dabei geht es vor allem um den Einfluss auf das Denken der Menschen. Wie wir bereits in der Geschichte erkennen können, hat die Kirche dem Staat den Weg geebnet, bis in die persönlichsten Bereiche des Menschen vorzudringen und diese unter staatliche Kontrolle zu stellen. Als Gegenleistung hat der Staat schon immer den Ein-Gott und seine Institutionen unter besonderen Schutz gestellt.
Durch Gesetzgebung, die bestraft, was die Kirche für verwerflich hält, festigt der Staat aber nicht nur die Macht der Kirche, sondern dehnt auch seinen eigenen Einflussbereich aus. Die Kirche wiederum hat somit einen Vollstrecker gefunden, der in Bereiche der Gesellschaft hineinwirken kann, in denen ihr eigener Einfluss nicht ausreicht.
Wir können also festhalten, dass der Staat vor allem durch das Einwirken auf die Moralvorstellungen und die Persönlichkeit der Menschen von der Kirche profitiert. Sich von diesem Einfluss zu befreien, sah Mühsam als eine der schwierigsten Aufgaben für den Kampf um die Befreiung der Gesellschaft an. Mühsam schreibt: »Der Kampf gegen die kirchlichen Lehren von freiheitlichen Gesichtspunkten aus ist […] in Ländern, die in Technik und Wissenschaften weit vorgeschritten sind, größeren Erschwerungen unterworfen als sogar der Kampf gegen den Staat und seine Gesetze und Einrichtungen.«
Wir teilen die Einschätzung, dass es gerade in den benannten Ländern eine besondere Schwierigkeit darstellt, das Denken zu befreien und diese These eine große Aktualität besitzt. Nach den Analysen Öcalans denken wir außerdem, dass an die Stelle der Religion mittlerweile der Positivismus getreten ist, der die Funktion der Kirche für den Staat übernimmt.
Positivismus als Brandbeschleuniger des gesellschaftlichen Zerfalls
Wir befinden uns seit der Frühen Neuzeit im Übergang des Wahrheitsregimes Religion zu Szientismus. Mit der Entstehung der positivistischen Wissenschaften ging in Europa eine weitere Verfestigung des Patriarchats einher, welche sich in einer sexistischen sowie rassistischen Gesellschaftsordnung widerspiegelt. Diese ist die Grundlage, auf der die Wissenschaften entwickelt wurden. Diese Prozesse gingen Hand in Hand mit dem größten organisierten Feminizid in Europa, der Hexenverfolgung, sowie der Kolonisierung großer Teile der Welt, die zu zahlreichen Genoziden führte.
Heute können wir ganz ähnliche Mechanismen beobachten, die Mühsam für die Verbindung von Kirche und Staat analysierte: Der Staat stärkt den Einfluss der Wissenschaften durch Gesetzgebungen, welche die positivistische Logik dort durchsetzt, wo sie selber keine Verfügungsgewalt haben und stärkt damit wiederum den Einfluss dieser auf das Denken der Menschen.
Es liegt im Wesen des Positivismus, alles zu zerteilen und in immer kleinere Einheiten zu zersplittern. Dort wo die Religion noch auf Nächstenliebe und Gemeinschaft setzt, führt das positivistische Denken zu immer mehr Vereinzelung und treibt somit die Zersplitterung der Gesellschaft voran.
Demokratischer Konföderalismus
Basisdemokratie und Geschlechterbefreiung sind auch heute noch die Grundlagen für den Aufbau einer freien Gesellschaft. Prinzipien wie »freier Wille, freies Denken und freiheitliche Beziehungen« kennen wir aus der kurdischen Freiheitsbewegung und sind auch grundlegende Lösungsvorschläge, die Mühsam in seinem Werk unterbreitet. Die Veränderung muss nicht nur im Außen stattfinden, sondern auch in uns selbst, denn Persönlichkeit und Gesellschaft sind eins.
Bei dem Blick in die Vergangenheit können wir viel lernen aus den Erfahrungen, die andere vor uns gemacht haben und ihren Weg fortsetzen. Doch wir müssen uns hüten, ihre Fehler zu wiederholen. Umso wichtiger erscheint uns eine Auseinandersetzung mit Analysen wie der Erich Mühsams und seinen Vorschlägen, um weitere Leerstellen in unserem Verständnis der heutigen Gesellschaft schließen zu können.
»Zu den Aufgaben der Anarchisten gehört es […], die Gefühle der Gerechtigkeit und der Freiheit, die jedem Menschen angeboren sind, aber dank der autoritären Erziehung durch Kirche, Schule und Militär und vor allem durch die Vaterschaftsfamilie großenteils verschüttet unter dem Bewusstsein liegen, wachzurütteln. An den Anarchisten ist es, begreiflich zu machen: Nicht die Not ist das schlimmste, sondern dass sie ertragen wird! Denn das Hinnehmen von Armut, während es Reichtum gibt, ist geistiges Versagen.«
Die Kraft zur Befreiung liegt in der Gesellschaft selbst und es braucht Freiräume, in denen diese zur Entfaltung kommen kann.
Um mit Mühsams Worten zu enden: »Recht und Freiheit ist das gleiche, wie Gesellschaft und Persönlichkeit das gleiche ist. Aus dem Recht wächst die Gleichheit des Kommunismus, aus der Gleichheit die Freiheit der Anarchie!«