Demokratische Nation und Nationalstaat – Teil 1

Dieser Artikel stellt einen Versuch dar, einen kursorischen Einblick in die Definition des Schlüsselbegriffs der Demokratischen Nation im Apoismus (1) zu geben. Der Begriff der Demokratischen Nation ist bisher wenig im deutschsprachigen Raum diskutiert worden, vielleicht weil er auf den ersten Blick nicht mit den antinationalistischen und antistaatlichen Paradigmen der PKK zusammenzupassen scheint, welche der kurdischen Bewegung eine besondere Sprengkraft verleihen. Um uns diesem Begriff anzunähern, müssen wir zunächst verstehen, dass die kurdische Bewegung es sich zu eigen gemacht hat, sich Begrifflichkeiten wieder oder neu anzueignen, die im herrschenden Diskurs durchaus anders besetzt sein können.

Die kurdische Freiheitsbewegung hat einen antistaatlichen und antinationalistischen Charakter. Die Eckpunkte des apoistischen Gesellschaftsmodells, Demokratische Autonomie und Demokratischer Konföderalismus, wurden schon an anderer Stelle mehrfach diskutiert. Beim so wichtigen Begriff der Demokratischen Nation bleibt immer noch eine gewisse Leerstelle, obwohl sie doch das alternative Modell des Apoismus zum Nationalstaat auf philosophisch-praktischer Ebene beschreibt. Die Leerstelle entsteht in der europäischen Debatte dadurch, dass der Begriff Nation immer auch mit dem Begriff des Nationalstaats wie auch mit Nationalismus verbunden wird: »Der Körper derjenigen Nationen, die mit dem nationalistischen Geist behaftet sind, äußert sich im Staat. Eben wegen ihres Körpers werden diese Nationen auch als Staatsnationen bezeichnet. Der Körper der Nationen, die allerdings freiheitlich und solidarisch sind, ist die Demokratische Autonomie. Die Demokratische Autonomie bedeutet, dass das Individuum und die Gesellschaft sich mit ihrem eigenen Willen verwalten. Man kann auch von einer demokratischen Leitung oder demokratischen Autorität sprechen.« (Abdullah Öcalan, KÜRT SORUNU VE DEMOKRATIK ULUS ÇÖZÜMÜ, Kültürel Soykırım Kıskacında Kürtleri Savunmak, 2016) – Wir können hier also zunächst festhalten, dass Demokratische Nation sich nicht an Ethnizität oder Religion orientiert, sondern von einer demokratischen Geisteshaltung definiert wird. Um dem Begriff aber wirklich ein Stück näherzukommen, müssen wir uns dem Denken und den Methoden Abdullah Öcalans tiefergehend anzunähern versuchen.

In der von Abdullah Öcalan verwendeten historischen, dialektischen Methode entwickelt sich Geschichte nicht wie in der klassisch marxistischen Methode entlang des Antagonismus von Kapital und Arbeit, sondern manifestiert und reproduziert sich im Rahmen des Antagonismus von Demokratischer und staatlicher Zivilisation auf immer neuen Ebenen. (Anzumerken ist dabei, dass der Begriff Zivilisation hier im ursprünglichen Sinne als »civitas«, als Gemeinde oder Gesellschaft, und nicht im Rahmen des kolonialen Diskurses verstanden werden muss.) In der historischen Methode der PKK wird der teleologisch angelegte historische Materialismus, der die unweigerliche gesellschaftliche Entwicklung vom Urkommunismus über Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus zum Kommunismus beschreibt, als nicht unveränderlich verstanden. Die »natürliche Gesellschaft« oder auch der »Urkommunismus« wird auch schon von Engels als matrizentrische Gesellschaft beschrieben (2) und viele Funde aus neolithischer Zeit, insbesondere Darstellungen von Göttinnen, wie auch die Mythologien scheinen Anhaltspunkte für eine solche Interpretation bereitzuhalten, wie auch die systematische Zurückdrängung von Frauen auf gesellschaftlicher Ebene in den staatlichen Strukturen Sumers, Akkads und der nachfolgenden. (3) Dies unterstützt auch Öcalans Beobachtung, dass die Durchsetzung von Herrschaft und Patriarchat nicht unweigerlich war, sondern ein Prozess, der mit Gewalt und Verrat aufrechterhalten wurde: »Insbesondere das Epos der Inanna, der Göttin des ersten Stadtstaates Uruk, ist sehr aufschlussreich. Dieses Epos, das eine Ära beschreibt, in der die matrizentrische und die patriarchale Kultur im Gleichgewicht waren, berichtet von einer harten Auseinandersetzung: lnanna als Göttin Uruks sucht Enki, den Gott der Stadt Eridu, in seinem Palast auf, dort fordert sie die einhundertvier ›me‹ zurück, die grundlegenden Entdeckungen und Erfindungen der Zivilisation, die sie als ihr rechtmäßiges Eigentum betrachtet. Durch verschiedene Methoden gelingt es ihr, sie nach Uruk zurückzubringen. Diese Legende ist eine Schlüsselerzählung, die hilft, jene Zeit zu verstehen. Inanna betont in dem Epos eindringlich, dass die ›me‹ als Errungenschaften der Zivilisation der Muttergöttin gehören, dass der männliche Gott Enki nichts mit ihnen zu tun, sondern sie ihr mit Gewalt und List geraubt hat. Inannas gesamte Bemühungen drehen sich darum, diese Kultur der Muttergöttin wieder zu erlangen.« (4) Während es im Rahmen der materiellen Befunde nicht einfach ist, vermeintlich längst vergangene Gesellschaftsformen zu erforschen, so bieten doch die Mythologie und Erzählung einen reichen Schatz an Perspektiven. Die Urgesellschaft, die auch für Öcalan kein Paradies darstellt, sondern die Gesellschaft, die vor der Durchsetzung der »heiligen Herrschaft« der Hierarchie, in ihrer ersten Form als Patriarchat und Gerontokratie, Herrschaft der Alten (Männer), bestand, hat nicht aufgehört zu sein, sondern besteht fort als Subströmung, als das, was Öcalan als Demokratische Zivilisation bezeichnet, welche der staatlichen Zivilisation gegenübersteht und bis heute gegen die kapitalistische Moderne Widerstand leistet.

Wenn man sich also vom Geschichtsdeterminismus entfernt und annimmt, dass jederzeit eine alternative Entwicklung möglich gewesen wäre, impliziert das, dass dies für heute immer noch gilt.

Öcalan stellt fest, dass der neueste Ausdruck der kapitalistischen Moderne der Nationalstaat ist. Der Nationalstaat, der in Europa Jahrhunderte von Genozid und Kriegen heraufbeschworen hat und den Mittleren Osten mit monistischen Regimen überzogen hat. In diesem Kontext ist die Nationalstaatsbildung als ein Prozess zu verstehen, der im 16. Jahrhundert begann und im Europa des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu seiner Ausprägung kam. Seine Wurzeln liegen im Bürgertum und in der bürgerlichen Gesellschaft, die sich mit der Französischen Revolution unter Ausnutzung der Unterdrückten, der Frauen der absolutistischen Herrschaft entledigten. War der Abbau von Zollschranken schon Inhalt des absolutistischen Merkantilismus gewesen, so übernahm der Nationalismus als bürgerliche Ideologie nun diese Aufgabe. Öcalan stellt fest, dass die fehlerhafte Analyse des Nationalstaats und des Problems Staat an sich im Marxismus-Leninismus zum Niedergang des Realsozialismus beigetragen hat: »Die unpassende Analyse der Frage des Staates durch die sozialistische Ideologie hat das Problem nur weiter vertieft (…) insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die Idee eines Staates für jede Nation trugen massiv dazu bei, das Problem zu vertiefen.« (5) Die Idee der Demokratischen Nation »unterscheidet sich vom Realsozialismus und der klassisch marxistisch-leninistischen Doktrin, die hinter ihm steht. Das Selbstbestimmungsrecht wird aus seiner Einschränkung als bürgerliches Recht befreit und mit dem Maßstab gesellschaftlicher Demokratie verbunden. Konkret heißt das, die Lösung der kurdischen Frage ist ohne etatistische Kontaminierung möglich, ohne die Verfolgung eines nationalstaatlichen Prinzips und ohne dass man sich in solche Kategorien zwängen lässt, sie kann durch demokratische Selbstverwaltungsmodelle der Gesellschaft verwirklicht werden. Dies ist die Essenz der Transformation der PKK.« (6) Bezüglich des Nationalstaatsbegriffs kritisiert Öcalan scharf die Überschneidung der Begriffe von Volk und Nation, von Ethnos und Demos. Ephraim Nimni vom Centre for Ethnic Conflict Studies folgt ebenfalls dieser Logik, wenn er wie Öcalan die Probleme des Nationalstaats als strukturell beschreibt; er stellt fest, »Kultur wird zum quasi-totalitären Merkmal für Einigkeit« (7), etwas, das wir in den Leitkulturdebatten in Deutschland, aber auch im Regime der Türkei immer wieder deutlich wahrnehmen können. Der Anthropologe Gellner beschreibt Assimilierung, Vertreibung und Mord (sogenannte »ethnische Säuberung«) als die Konsequenz aus der Logik des Nationalismus – das 20. Jahrhundert steht Zeuge für diese These. Für die aggressiven nationalistischen Mobilisierungen des 20. Jahrhunderts stellte die Kongruenz von Staat und Kultur eine Grundvoraussetzung dar. (8)

Die Entwicklung moderner Nationalstaaten ist wie gesagt eng mit der Entwicklung des modernen Kapitalismus und seiner Märkte verbunden. Die Staaten Westeuropas begannen im 16. Jahrhundert damit, imperiale Konzepte allmählich zu ersetzen. Dieser Prozess gipfelte, als das Bürgertum in der Französischen Revolution Könige und Feudalherren überwand und sich an deren Stelle setzte. Die Frauen, die Ausgebeuteten, welche diese Revolution vorangetrieben hatten, wurden bei erstbester Gelegenheit durch die neue bürgerliche Elite der staatlichen Zivilisation verraten, ermordet und unterworfen. Nationwerdung geschah im Kontext von Marktverteidigung und Eroberung. Feudale Zölle wurden für das Kapital der eigenen Bourgeoisie aufgehoben. Nationen wurden als Gebiete der Produktion und Konsumption definiert – zunächst intern, nach Konsolidierung aber aggressiv expansiv. Die Nation, die als »Volk« definiert wurde, stellte und stellt immer noch den Klebstoff dar, der die Unterdrückten an die Unterdrücker binden soll. Der Sozialwissenschaftler Jeffrey Miley stellt diese Entwicklung folgendermaßen dar: »Großbritannien benutzte zum Beispiel das Konzept von Britishness, um die Menschen aus der Arbeiterklasse dazu zu kriegen, sich mit den imperialen Projekten zu identifizieren. (…) Das stellt eine historische Problematik dar, die im Zwischenkriegseuropa im Aufstieg des Faschismus kulminierte, als staatliche Akteure den Bezug auf die Nation zur Massenmobilisierung benutzten.« (9) Wir können feststellen, dass die nationalstaatliche Perspektive alles durchdrang. Während der Positivismus die Religion vordergründig verdrängte, scheint an die Stelle Gottes der Nationalstaat getreten zu sein. Dies zeigt die aufkommende Sakralisierung der Nation und Essentialisierung dieses fiktiven Begriffs. Essentialisierung und Sakralisierung zeigten sich auch in der Entstehung des biologistischen Rassismus und des Sozialdarwinismus als Naturalisierung des kapitalistischen Modells. Das nationalstaatliche Denken erfasste alle gesellschaftlichen Bereiche und so waren die Intellektuellen und Philosophen ebenfalls kaum in der Lage, das staatliche System als solches zu kritisieren, sie beschränkten sich allenfalls auf Teilaspekte wie beispielsweise die Produktion. Auch heute im Diskurs um den nationalen Wettbewerbsstaat, der sich in Deutschland als Standortdebatte zeigt, sehen wir wieder einmal, dass der Nationalstaat nicht das Gegenteil von globalisiertem Neoliberalismus darstellt, wie es uns Nationalisten glauben machen wollen, sondern das Ausspielen der Arbeitenden in verschiedenen konkurrierenden Nationalstaaten, um die Gunst des Kapitals zu gewinnen, eine eigentlich regelrecht klassische Anwendung des nationalstaatlichen Prinzips.

Demgegenüber lehnt der Apoismus diese Definition von Nation als Staat radikal ab, wie seine Beschreibung von Frauen als »die erste unterdrückte Nation« zeigt. Das Verständnis der Demokratischen Nation ist nicht auf Territorium, Identität oder Kultur, sondern auf der Basis geteilter Werte aufgebaut. Die Demokratische Nation kann mit Staaten koexistieren, manifestiert sich aber praktisch durch Demokratische Autonomie und Demokratischen Konföderalismus – ihr Ausdruck ist radikale Demokratie, nicht Homogenität, sondern Pluralität ist Merkmal. Die Trennung von Subjekt und Objekt, die sich in Dichotomien wie Geist (Subjekt) und Materie (Natur/Objekt), Mann (Subjekt) und Frau (Objekt) zeigt, spiegelt die Spaltung der Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte wider. Ein wichtiges Merkmal der Philosophie der Demokratischen Nation ist die Aufhebung dieser Subjekt-Objekt-Dichotomie – Individuum und Gesellschaft werden nicht als Widerspruch oder Einheit gedacht, sondern das Individuum als etwas, das nur im gesellschaftlichen Kontext verstanden werden kann, das nur frei sein kann im Kontext einer politischen Gesellschaft und umgekehrt eine Gesellschaft nur frei durch freie Individuen sein kann. Nicht das postmoderne subjektivistisch ins Zentrum gerückte Individuum, das so vereinzelt ist, dass es machtlos ist gegenüber »der Gesellschaft« – hier gleichgesetzt mit dem Staat –, und auch nicht das moderne Individuum, das gegenüber Staat oder Gesellschaft nichts bedeutet und deswegen machtlos ist, sondern das Individuum, das sich frei in radikaldemokratischen Strukturen organisiert und so gemeinsam mit anderen die Gesellschaft gestaltet. Radikale Demokratie bedeutet aber auch die demokratische Übernahme aller vom Staat der Gesellschaft entrissenen Aufgaben, Verteidigung, Gerechtigkeit, Justiz – sowie den Aufbau von Beziehungen jenseits patriarchaler Unterdrückung und Ausbeutung. Hier wird deutlich, dass es die abgeschlossene Demokratische Nation gar nicht geben kann, sondern dass es eine kontinuierliche Veränderung des Selbstverständnisses im Einzelnen darstellt – vom Selbstverständnis des subjektivistischen oder objektivistischen Staubkorns vor dem Leviathan des Staates hin zu einem bewussten und freien Individuum, das in Verbindung mit der Gesellschaft steht und in ihr organisiert ist.

»Wir sind davon überzeugt, dass die Menschen unter kapitalistischer Herrschaft am versklavtesten sind – Liberalismus erzeugt die Illusion von Freiheit –, in diesem Sinne muss die individuelle Freiheit diskutiert werden. Klar, wir leben nicht im Zeitalter der Religion und der Könige, aber der Mensch konnte dennoch kein freies Individuum werden, sondern wurde zum Objekt. Möglicherweise werden Menschen nicht mehr so oft verkauft wie früher, aber dasselbe wird heute durch subtilere Methoden praktiziert. Der Kampf ist schwer, aber ohne die Befreiung des Individuums kann er nicht erfolgreich sein – wir müssen uns selbst fragen: Wie frei bin ich?« (Öcalan 2016)


(1) Apoismus wird hier wie im Türkischen als Kurzform verwendet für das Netzwerk von Konzepten und Begrifflichkeiten um Demokratischen Konföderalismus, Demokratische Autonomie und Demokratische Nation.

(2) Lewis H. Morgan, Ancient Society (1877); Friedrich Engels, The Origin of the Family, Private Property and the State (1894); and V. Gordon Childe, Man Makes Himself

(3) cf.: Helga Vogel, Antike Welt 2015/2

(4) Abdullah Öcalan, Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, 1. Aufl. 2010, S. 21f.

(5) Öcalan 2016, S. 19

(6) ebd.

(7) Nimni 2013, S. 5

(8) Gellner 1997, S. 239–240

(9) ibidem