„Der Frieden ohne Selbstverteidigung, den der Liberalismus heute den Völkern und Gesellschaften aufzwingt, insbesondere das demokratische Stabilität und Verständigung genannte Spiel ist nichts anderes als die Verschleierung der mit Waffengewalt aufrechterhaltenen bürgerlichen Klassenherrschaft und die verdeckte Fortsetzung des Kriegszustandes. Die ideologische Hegemonie des Kapitals gibt sich große Mühe, um den Frieden ohne Selbstverteidigung als echten Frieden auszugeben.“ (Abdullah Öcalan)
Im vierten Kapitel des Buches »Soziologie der Freiheit« geht Öcalan auf die Entstehung der sogenannten gesellschaftlichen Frage ein. Darin analysiert er insgesamt zwölf verschiedene miteinander verwobene Probleme der Gesellschaft: von Macht und Staat, über Ökologie, bis zur Frage der Demokratie. Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Frage des Antimilitarismus international wieder ein aktuelles Thema. In diesem Zusammenhang haben wir bereits einen Auszug zu Militarismus veröffentlicht. Wir denken, dass die Analysen Öcalans ein wertvollen Beitrag zu der Frage, wie die demokratischen Kräfte der Gesellschaft einen wirklichen Frieden erringen können. Es folgt ein weiterer ergänzender Auszug mit einer Neubestimmung von Frieden und Demokratie durch Öcalan:
Unter einer der vorangegangenen Überschriften versuchte ich in Form einer sehr knappen Einleitung darzustellen, mit welchen Problemen die gesellschaftliche Natur überhäuft wird. Ein Paradigma und die Sozialwissenschaften können nur dann wertvoll sein, wenn man sich bei Analysen und Antworten auf diese Definitionen stützt. Ansonsten unterschieden sie sich nicht mehr von liberalen und traditionalistischen Rhetoriken (Wortkünste, die die Herrschaft verschleiern). Ich kam zum Ergebnis, dass den gesellschaftlichen Fragen die kombinierten Auswirkungen, die Herrschaft und der Kolonialismus von Unterdrückungs- und Ausbeutungsmonopolen zugrunde liegen, die im Allgemeinen die gesellschaftliche Natur (die Existenz der Gesellschaft) und im Besonderen die Mehrwert produzierenden wirtschaftlichen Ressourcen ausbeuten. Die Probleme haben ihren Ursprung weder in der Umwelt (Erste Natur) noch in irgendeinem gesellschaftlichen Faktor (Zweite Natur).
Ohne Moral und Politik, die sich als Existenzfaktoren zur Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten der Gesellschaft im allgemeinen, kollektiven Sinne zu einem Gewebe entwickelt haben, können Gesellschaften nicht weiterexistieren. Der Normalzustand und die Existenz der Gesellschaft können nicht ohne Moral und Politik sein. Wenn das eigene moralische und politische Gewebe einer Gesellschaft sich nicht entwickelt hat oder verkrüppelt, irregeleitet und gelähmt ist, kann über sie gesagt werden, dass diese Gesellschaft die Besetzung und Kolonialisierung verschiedener Monopole als Kapital, Macht und Staat erlebt. Allerdings auf diese Weise zu existieren, ist ein Verrat und eine Entfremdung von ihrer eigenen Existenz; es handelt sich dabei um eine Existenz als Herde, Gegenstand und Ware-Eigentum unter der Herrschaft von Monopolen. Unter diesen Umständen ist der Gesellschaft ihre eigene Natur abhanden gekommen und die Fähigkeiten der natürlichen Gesellschaft sind verloren oder verkümmert. Die Gesellschaft ist kolonialisiert, sogar – noch schlimmer – hat sie sich gänzlich als Eigentumsgegenstand der Verderbnis und der Nichtexistenz ergeben. In der Geschichte und Gegenwart sind viele Gesellschaften zu sehen, die dieser Definition entsprechen. Die verdorbenen und vernichteten sind viel zahlreicher als die überlebenden.
Wenn die Gesellschaft in einen Zustand verfällt, in dem sie nicht die für ihre Fortexistenz notwendigen moralischen und politischen Institutionen formieren und funktionalisieren kann, befindet sie sich in der Klemme von Unterdrückung und Ausbeutung. Dies ist ein ›Kriegszustand‹. Es wäre auch möglich, die geschichtlichen Zivilisationen als einen ›Kriegszustand‹ gegen die Gesellschaft zu bezeichnen. Wenn Moral und Politik nicht funktionieren, bleibt der Gesellschaft nur eine Sache übrig: Selbstverteidigung. Der Kriegszustand ist das Fehlen des Friedens. Folglich kann der Frieden nur auf der Grundlage der Selbstverteidigung einen Sinn erlangen. Ein Frieden ohne Selbstverteidigung ist Ausdruck der Resignation und Sklaverei. Der Frieden ohne Selbstverteidigung, den der Liberalismus heute den Völkern und Gesellschaften aufzwingt, insbesondere das demokratische Stabilität und Verständigung genannte Spiel ist nichts anderes als die Verschleierung der mit Waffengewalt aufrechterhaltenen bürgerlichen Klassenherrschaft und die verdeckte Fortsetzung des Kriegszustandes. Die ideologische Hegemonie des Kapitals gibt sich große Mühe, um den Frieden ohne Selbstverteidigung als echten Frieden auszugeben. In der Geschichte drückt es sich mit anderen ›sakralisierten Begriffen‹ aus. Religionen, vor allem zivilisierte, sind voller solcher Begriffe.
Die Verwirklichung des Friedens kann ihre wahre Bedeutung nur dann erlangen, wenn die gesellschaftliche Selbstverteidigung funktioniert, also wenn der moralische und politische Gesellschaftscharakter bewahrt und gewährleistet wird. Insbesondere der Frieden, um dessen Definition sich Michel Foucault sehr bemühte, kann nur dadurch einen akzeptablen gesellschaftlichen Ausdruck finden. Ein Frieden, dem andere Bedeutungen beigemessen werden, kann nichts anderes sein als eine Falle für alle Gemeinschaften und Völker und eine Fortsetzung des Kriegszustandes in verdeckter Form. Der Friedensbegriff ist unter den Bedingungen der kapitalistischen Moderne ein Wort voller Fallen. Ihn ohne richtige Definition zu benutzen ist deshalb bedenklich. Wenn wir es nochmals definieren: der Frieden ist weder die vollständige Aufhebung des Kriegszustandes noch die ›Stabilität‹, die unter der Überlegenheit der einen Partei errichtet wird, und das Fehlen des Kriegs. Im Krieg gibt es verschiedene Parteien; die absolute Überlegenheit der einen Partei ist nicht der Fall und darf es auch nicht sein. Drittens dürfen die Waffen nur auf der Basis der Anerkennung des eigenen moralischen und politischen institutionellen Funktionierens der Gesellschaft zum Schweigen gebracht werden. Diese drei Voraussetzungen bilden die Grundlage des prinzipiellen Friedens. Ein richtiger Frieden kann nur dann etwas bedeuten, wenn er auf diesen prinzipiellen Voraussetzungen beruht.
Lassen Sie uns auf diese drei Voraussetzungen näher eingehen. Erstens ist eine vollständige Entwaffnung der Parteien nicht vorgesehen. Welchen Anspruch auch immer sie haben, geloben die Parteien nur einander nicht anzugreifen. Es wird dabei keine militärische Überlegenheit angestrebt. Das Recht und die Möglichkeiten aller Parteien, für ihre Sicherheit zu sorgen, werden respektiert. Zweitens handelt es sich nicht um die endgültige Überlegenheit der einen Partei. Vielleicht kann unter der Überlegenheit der Waffen ein Zustand der Stabilität und Ruhe eingeleitet werden, aber dieser Zustand heißt nicht Frieden. Es kann sich um einen Frieden handeln, wenn beide Parteien akzeptieren, den Krieg zu beenden, ohne dass eine von ihnen sich mithilfe von Waffen Überlegenheit verschafft. Drittens akzeptieren die Parteien, wie sie sich auch immer positionieren, bei der Lösung der Probleme das moralische und politische Funktionieren der jeweiligen Gesellschaften zu respektieren. In diesem Rahmen lässt sich der Zustand, der als ›politische Lösung‹ bezeichnet wird, definieren. Ein Waffenstillstand, der keine politische und moralische Lösung beinhaltet, darf nicht als Frieden interpretiert werden.
Unter diesen prinzipiellen Friedensbedingungen erlangt die demokratische Politik eine enorme Bedeutung. Wenn die moralischen und politischen Institutionen der Gesellschaft funktionieren, entsteht natürlicherweise ein Prozess der demokratischen Politik. Die Kreise, die die Verwirklichung des Friedens anstreben, sollten wissen, dass sie nur dann Erfolg haben können, wenn die Politik auf moralischer Basis ihre Rolle spielt. Im Frieden hat zumindest eine Partei sich in der Position der demokratischen Politik zu befinden. Ansonsten kann es nicht über ein ›Friedensspiel‹ im Interesse der Monopole hinausgehen. Die demokratische Politik spielt in diesem Fall eine lebenswichtige Rolle. Mit den Kräften der Macht und des Staates können nur die Kräfte der demokratischen Politik auf der Basis des Dialogs einen sinnvollen Friedensprozess einleiten. Wenn ein solcher Frieden nicht der Fall ist, dann besteht der Kriegszustand weiter, selbst wenn die Kriegsparteien (Monopole) ihre Waffen zeitweilig gegenseitig niedergelegt haben. Im Krieg gibt es Schwierigkeiten aufgrund Ermüdung und logistischer Bedürfnisse. Wenn diese Schwierigkeiten beseitigt werden, wird der Krieg so lange fortgesetzt, bis eine der Parteien absolute Überlegenheit erlangt. Diese Form ist nicht als Frieden, sondern als Waffenstillstand in Erwartung noch gewaltigerer Kriege zu bezeichnen. Damit ein Waffenstillstand friedlich sein kann, muss er den Frieden herbeiführen und in die drei Voraussetzungen, die ich aufgezählt habe, münden.
Es kann auch dazu kommen, dass diejenige Partei, die sich im Krieg in der Selbstverteidigungsposition befindet, (die Partei, die Recht hat) absolute Überlegenheit erlangt. Auch dann ändert sich nichts an den drei Friedensvoraussetzungen. Wie es an der Erfahrung des Realsozialismus und der zahlreichen berechtigten nationalen Befreiungskriege ersichtlich wird, kann die sofortige Gründung der eigenen Macht und des eigenen Staates und das Sorgen für Stabilität unter dieser Macht und diesem Staat nicht Frieden genannt werden. In diesem Fall handelt es sich darum, dass die ausländische monopolistische Kraft durch eine inländische (Staatskapitalismus oder die Kreise, die nationale Bourgeoisie genannt werden) ersetzt wird. Auch wenn es dann sozialistische Macht genannt wird, ändert sich nichts an dieser soziologischen Realität. Frieden ist grundsätzlich kein Phänomen, das durch die Überlegenheit der Macht und des Staates hervorgerufen wird. Solange die Macht und der Staat (bürgerlich, sozialistisch, national, anti-national – es macht keinen Unterschied) ihre eigene Überlegenheit nicht mit den demokratischen Kräften teilt, kann von Frieden keine Rede sein. Frieden, in letzter Instanz, ist die bedingte Übereinkunft zwischen der Demokratie und dem Staat. In der Geschichte nehmen auch die Erzählungen über solche Übereinkünfte viel Platz und Zeit ein. Diese bedingten Übereinkünfte wurden zu vielen Zeiten in vielen Räumen ausprobiert. Es gab sowohl prinzipielle, langfristige Beispiele als auch im Handumdrehen aufgekündigte. Die Strukturen, in denen Gesellschaften leben, bestehen nicht ausschließlich aus errichteten Mächten und staatlichen Kräften. Solange Gesellschaften nicht vollständig vernichtet wurden, wissen sie, egal, wie sehr ihr Raum eingeengt wurde, ihr Leben unter ihrer eigenen moralischen und politischen Identität fortzusetzen. Diese Realität ist vielleicht der in der Geschichte nicht beschriebene eigentliche Zustand des Lebens.
Die Gesellschaft nicht als ausschließlich aus Macht- und Staatserzählungen bestehend zu sehen, im Gegenteil als bestimmende Natur zu betrachten, könnte Grundstein einer realistischeren Soziologie legen. Wie groß und reich die Mächte, Staaten und Kapitalmonopole (so wie Pharao und Karun) auch immer sind oder zu welch großem die Gesellschaft verschlingenden Ungeheuer (neuer Leviathan) ihre heutigen Erben auch immer geworden sind, können sie niemals die Gesellschaft vernichten; denn was sie in letzter Instanz bestimmt, ist wiederum die Gesellschaft. Die Bestimmten können niemals die Bestimmenden ersetzen. Nicht einmal die gegenwärtig so imposante mediale Propagandakraft der Macht kann diese Tatsache verdecken. Sie sind die elendsten und erbarmenswürdigsten Kräfte, die sich als Riesen verkleidet haben. Dagegen wird die menschliche Gesellschaft nicht davor zurückschrecken, ihre Bedeutung als die seit ihrer Entstehung prächtigste Kreation der Natur zu finden.