Cemil Bayık, Ko-Vorsitzender der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK)
Ausgehend von Abdullah Öcalans Geschichtsauffassung, die über das etatistische (1) Paradigma hinausgeht und historische Entwicklungen aus der Perspektive eines sozialistischen Paradigmas betrachtet, analysiert Cemil Bayık die aktuelle Situation im Nahen Osten und insbesondere die arabisch-jüdische Frage und entwirft mit ihrer Hilfe Perspektiven.
Teil 1
In dem Maße, wie die Globalisierung des Kapitals zunimmt, werden alle Orte mit menschlicher Bevölkerung für die Kräfte der kapitalistischen Moderne wichtig. Dies ist einer der Hauptgründe, warum die Widersprüche und Rivalitäten in Asien und im Pazifikraum in den letzten Jahren zugenommen haben. Denn heute wächst und entwickelt sich das kapitalistische System durch Konsum. Deshalb nennt man die heutige Welt eine Konsumgesellschaft, das ist eine korrekte Benennung. Das System der kapitalistischen Moderne hat das Stadium der Konsumgesellschaft erreicht. Durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik ist das Problem der Produktion heute bereits gelöst: Alles konkret vorstellbare kann produziert werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Probleme gelöst sind. Im Gegenteil, wir befinden uns in einer Phase, in der die Probleme besonders groß sind. Denn das System der kapitalistischen Moderne ist immer noch dominant. Die Existenz der kapitalistischen Moderne verhindert die Lösung der Probleme. Andererseits hat die Tatsache, dass der Konsum zum Hauptmittel des Kapitals geworden ist, dazu geführt, dass die Probleme ins Außerhalb der Menschen und der Gesellschaft verlagert wurden. Dies äußert sich in der Zerstörung der Natur, der Zerstörung der Ökologie und dem zunehmend unbewohnbaren Zustand unseres Planeten. Als das Hauptziel der Konsum selbst war, wurde alles, auch die Natur, immer mehr objektiviert. Abdullah Öcalan hat erklärt, dass das System der Zivilisation, das sich durch die Trennung von Subjekt und Objekt sowie durch die Vertiefung des Unterschieds zwischen ihnen entwickelt hat, im System der kapitalistischen Moderne seine maximale Tiefe erreicht hat und allmählich ein Stadium erreichen wird, in dem sogar das Subjekt objektiviert wird. Ein solches Stadium erleben wir jetzt. Das schlägt sich natürlich in mehr Widersprüchen, Konkurrenz, Konflikten und Kriegen nieder. Dies geschieht in Form des Dritten Weltkriegs (2). Denn Widersprüche sind nicht lokal oder regional, sondern universell. Der jeweilige Widerspruch ergibt sich aus dem System selbst.
Die modernste Kriegsflotte der Welt befindet sich im Nahen Osten
Da das System überall existiert, sind Widersprüche und Kriegszustände überallhin getragen worden. Zweifelsohne werden diese Widersprüche durch bestimmte Zentren ausgetragen. Eines dieser Zentren ist der Nahe Osten. Dieser ist seit dem Altertum ein wichtiges Zentrum. Daher war die Region auch eines der Zentren der Widersprüche und Konflikte. Diese Stellung hat sie auch heute noch. Die Zunahme von Widersprüchen und Rivalitäten an anderen Orten wie Asien in der Phase der Konsumgesellschaft bedeutet nicht, dass die Bedeutung des Nahen Ostens abgenommen hat. Im Gegenteil, sie hat zugenommen. Die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten sind auch insofern wichtig, als sie den Irrtum einer solchen Diskussion deutlich machen.
Abdullah Öcalan hat schon erklärt, dass alle Widersprüche und Konflikte heute in den Bereich des Dritten Weltkriegs fallen. Dies wird am besten durch die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten belegt. Wäre dies nicht der Fall, so wären die modernsten Kriegssysteme der Welt nicht in diese Region gebracht worden. Die modernste Kriegsflotte der Welt befindet sich derzeit im Nahen Osten.
Als sich die Entwicklungen in Palästina abzeichneten, brachten die USA ihr größtes Kriegsschiff in die Region. Es heißt, dass auch das zweite Schiff dorthin gebracht werden soll. Ebenso wird gemunkelt, dass das Vereinigte Königreich seine Marineflotte in die Region bringen wird. Das größte Kriegsschiff der USA bedeutet die größte Kriegsflotte der Welt. Das bedeutet eine ernsthafte Kriegshaltung. Es wäre falsch zu sagen, dass dies nur für den Krieg Israels gegen Gaza und die Hamas gilt. Ohne Zweifel sind die Existenz und die Sicherheit Israels für die USA und die NATO sehr wichtig. Selbst wenn es nur aus diesem Grund ist, ist gleichwohl eine Kriegshaltung vorhanden, welche Taten folgen lassen könnte. Die Existenz und Sicherheit des Staates Israel ist jedoch eine regionale Frage. Sie betrifft nicht nur die Fläche, auf der er errichtet wurde, sondern den gesamten Nahen Osten.
Die Gründung des Staates Israel, die zu einer erneuten Eskalation der historischen arabisch-jüdischen Frage und zur Entstehung der palästinensischen Frage führte, ist eng mit der Nahostpolitik der Kräfte der kapitalistischen Moderne verbunden. Denn einer der Grundpfeiler der etablierten Ordnung im Nahen Osten ist die Existenz und Sicherheit des Staates Israel. Ein Ergebnis dieser Ordnung, ist die Palästina-Frage. Aufgrund dieser Situation ist die palästinensische Frage, eine Frage, die den gesamten Nahen Osten bis heute betrifft. Die Taten der Hamas vom 7. Oktober und die darauf folgenden israelischen Angriffe auf den Gazastreifen und die Region haben diese Tatsache erneut bestätigt. Es ist noch nicht abzusehen, wie diese Entwicklungen ausgehen werden.
Jetzt diskutieren alle darüber und versuchen vorherzusagen, wie die Ereignisse ausgehen oder sich entwickeln werden. Zweifellos ist es im Moment schwierig, dies vorherzusagen. Wir wissen nicht, ob es sich um einen sich ausbreitenden Krieg oder um eine Abfolge von Konflikten mit definierten Grenzen handeln wird. Die sich vertiefenden Widersprüche zwischen den Kräften der kapitalistischen Moderne und die sich verschärfende Krise des Systems zeigen jedoch, dass sich die Entwicklungen im Rahmen des Dritten Weltkriegs abspielen werden. Das zeigt sich auch in den Haltungen, die zum Ausdruck kommen. Andererseits ist die Entwicklung nicht nur im Nahen Osten zu beobachten. Auch in anderen Teilen der Welt gehen die Entwicklungen in diese Richtung.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Beispiel dafür. Mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine hat der Dritte Weltkrieg zum ersten Mal die Grenzen des Nahen Ostens verlassen. Die aktuellen Entwicklungen deuten jedoch darauf hin, dass das Zentrum des Krieges wieder der Nahe Osten sein wird. Tatsächlich war er schon immer das Zentrum des Krieges, ohne Unterbrechung. In Kurdistan und Palästina herrscht seit hundert Jahren ununterbrochen Krieg. Die ganze Region war schon immer ein Schlachtfeld für die kurdische und die palästinensische Frage. Neu ist nun, dass die kapitalistische Moderne das Stadium der Konsumgesellschaft erreicht hat und deren Folgen offen zutage treten. Die wichtigste Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen müssen, ist, dass sich der Dritte Weltkrieg im Nahen Osten wie auch in anderen Teilen der Welt verschärft und die künftigen Entwicklungen auf dieser Grundlage stattfinden.
Für die kurdische und die palästinensische Frage ist ebenso wie für das jüdische Volk eine wirkliche und dauerhafte Lösung wichtig
Einer der Hauptpfeiler der bestehenden Ordnung im Nahen Osten ist zweifellos die auf dem Völkermord an den Kurd:innen basierende Politik. Diese Realität muss bei der Analyse der palästinensischen Frage, der Ordnung im Nahen Osten und der neuen Entwicklungen berücksichtigt werden. Sonst kann man den Ursprung der Probleme, die Art der Entwicklungen und damit die Ergebnisse, die sich ergeben werden, nicht richtig verstehen. Die in Kurdistan und Palästina durchgesetzte Ordnung ist Ausdruck der im Nahen Osten etablierten Ordnung. Diese basiert auf dem Völkermord an beiden Völkern. Deshalb haben die positiven und negativen Entwicklungen in Kurdistan und Palästina Auswirkungen auf die gesamte Region. Während der Kampf der beiden Völker und ihr Streben nach Freiheit die genozidale, kolonialistische Ordnung im Nahen Osten erschüttern, stärkt die herrschende »Ordnung« diese. Und ebenso ist die Existenz und die Frage des jüdischen Volkes eine Realität im Nahen Osten. Auch dies ist eine wichtige Tatsache der Region. Die Existenz und die Frage des jüdischen Volkes können nicht ignoriert oder geleugnet werden.
Für die kurdische und die palästinensische Frage ist, ebenso wie für das jüdische Volk, eine echte und dauerhafte Lösung wichtig. Die Veränderung der im Nahen Osten entstandenen Ordnung, die auf den Interessen der kapitalistischen Moderne beruht, kann nur auf diesem Wege erreicht werden: einem Prozess auf demokratischer Grundlage mit der Überwindung der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und der Ermöglichung eines freien und gleichberechtigten Zusammenlebens der Völker. Es ist wichtig, die kurdische, arabische und jüdische Frage aus einer solchen Perspektive zu betrachten. Alle anderen Ansätze sind absolut falsch und unvollständig. Der arabische Nationalismus (im Kontext des Antisemitismus) sieht das Problem in der Rückkehr der Jüd:innen in den Nahen Osten, während der jüdische Nationalismus (Zionismus) das Problem in der Existenz der Araber:innen sieht: Damit die einen existieren können, müssen die anderen verschwinden. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Diese Ansätze, die das Ergebnis von Nationalismus und einer national-etatistischen Mentalität sind, haben die Probleme bis heute nur vertieft. Diese Ansätze sind der Grund für all die schmerzhaften Verluste. Gleichzeitig wird dieser Ansatz, der sich als Folge der etatistischen Mentalität und ihrer nationalstaatlichen Variante entwickelt hat, als die einzige Option dargestellt. Aber in Wirklichkeit ist er nicht die einzige Option für die Völker. Eine solche historische Lesart ist völlig falsch und unbegründet.
Es ist nur richtig, dass weder die Rückkehr der Jüd:innen in den Nahen Osten, noch die Existenz der Palästinenser:innen das Problem sind. Indem er zu den Wurzeln der Geschichte vordringt, hat Abdullah Öcalan die Realität aufgedeckt, die allen Fragen, einschließlich der arabisch-jüdischen Frage, in ihrer historischen Entwicklung zugrunde liegt. Diese von Abdullah Öcalan entwickelte neue Lesart der Geschichte ist äußerst wissenschaftlich. Sie hat eine Qualität, die die soziale Realität korrekt offenbart. Die neue Geschichtsauffassung von Abdullah Öcalan, die über das etatistische Paradigma hinausgeht und historische Entwicklungen aus der Perspektive eines sozialistischen Paradigmas betrachtet, ist für die Lösung der Probleme im Nahen Osten von größter Bedeutung.
Die historische arabisch-jüdische Frage entstand als Folge der Entwicklung der staatlichen Zivilisation. Auch unabhängig voneinander sind die arabische und die jüdische Frage ein Ergebnis der staatlichen Zivilisation. Abdullah Öcalan hat sich damit in seiner Betrachtung der historischen Entwicklung ausführlich beschäftigt. Er hat den Zusammenhang mit dem Widerspruch zwischen den Hurriter:innen (3) und den Amurriter:innen (4) in der Geschichte aufgezeigt (5). Diese sind wichtig, und ohne sie zu kennen oder zu berücksichtigen, ist es nicht möglich, das Wesen der heutigen Probleme zu verstehen und eine Lösung anzubieten. Denn dann wäre die Folge, dass keine Lösungen für die Probleme entwickelt werden können und diese sich weiter verschärfen. Eine der Fragen, die sich aufgrund dieses Ansatzes verschärft haben, ist die arabisch-jüdische Frage. Bis heute gibt es keinen anderen Ansatz für die arabisch-jüdische Frage als die derzeitige Sichtweise: Die Kräfte, die sich als Feinde gegenüberstehen, haben sich darauf geeinigt, das Problem mit der Mentalität der kapitalistischen Moderne und ihrem nationalstaatlichen Verständnis zu lösen.
Dennoch, beide leiden unter der Mentalität der kapitalistischen Moderne und ihrem nationalstaatlichen Verständnis. Die arabisch-jüdische Frage, die uns heute als israelisch-palästinensischer Konflikt begegnet, basiert jedoch auf der nationalstaatlichen Mentalität und dem nationalstaatlichen Ansatz. Der Ansatz, in den alten Gebieten, in denen Araber:innen und Jüd:innen leben, Nationalstaaten zu errichten, ist die Hauptursache für dieses Problem. Ohne die Überwindung dieses Ansatzes wird eine Lösung des Problems nicht möglich sein. Dies ist in der Tat nicht nur für die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts, sondern auch für die Lösung aller Probleme im Nahen Osten, insbesondere der kurdischen Frage, essenziell.
Die Entstehung der palästinensischen Frage
Genau wie die Entstehung der kurdischen Frage ist auch die Entstehung der palästinensischen Frage ein Ergebnis der Nahostpolitik der kapitalistischen Moderne. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bestand der Ansatz der Kräfte der kapitalistischen Moderne im Nahen Osten darin, das Osmanische Reich zu zerschlagen und abhängige Nationalstaaten zu schaffen. Das Bündnis des osmanischen Staates mit Deutschland konnte die Entwicklung dieses Prozesses nicht verhindern. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg gestalteten Großbritannien und Frankreich die Welt und den Nahen Osten neu. Der Einfluss und die Kontrolle vor allem Großbritanniens entwickelten sich im Nahen Osten. Die Geografie des Nahen Ostens wurde so weit wie möglich in Form von abhängigen Staaten fragmentiert. Kurdistan wurde auf vier Nationalstaaten aufgeteilt, und das kurdische Volk wurde in die Serie von Völkermorden einbezogen. Dies war das Ergebnis eines Abkommens zwischen dem türkischen Staat und den Kräften der kapitalistischen Moderne. Auf der einen Seite wurde das kurdische Volk dem Völkermord preisgegeben, auf der anderen Seite wurden der türkische, der persische und die arabischen Nationalstaaten abhängig gemacht. Die Kräfte der kapitalistischen Moderne hielten diese Methode für geeignet, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Ausrottung und Liquidierung zahlreicher Völker, wie z. B. die Armenier:innen und Assyrer:innen, erfolgte ebenfalls innerhalb dieses Prozesses. Und auch das Wiederauftauchen der arabisch-jüdischen Frage und die Entstehung der palästinensischen Frage sind Ergebnisse dieses Prozesses.
Ohne Zweifel hat jede Frage ihre eigenen Aspekte. Die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Nahen Osten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert und der darauf folgende Prozess sollten in diesem Licht gesehen werden. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Moderne in Europa nahmen auch die Pogrome und Massaker gegen das jüdische Volk zu. Infolgedessen entwickelten die Jüd:innen die Idee, sich im Nahen Osten, den sie als ihr altes Land betrachteten, niederzulassen und dort einen eigenen Staat zu gründen. Um die Hindernisse zu beseitigen, die diesem Vorhaben im Wege standen, bedienten sie sich der Unterstützung durch die Kräfte der kapitalistischen Moderne. Dies war der Hauptgrund für das Entstehen der problematischen Situation. Damals versuchte Großbritannien, die Dynamik auszugleichen, um den Nahen Osten stärker von sich abhängig zu machen. Dies ist eine klassische Methode des Systems der kapitalistischen Moderne und des Imperialismus. Kurz gesagt, es handelt sich um eine Politik des Gleichgewichts sowie des Teilens und Herrschens. Es wäre nicht falsch zu sagen, dass Großbritannien die Situation des jüdischen Volkes in seiner Herangehensweise an die »Nahost«-Frage und an die arabische Frage ausgenutzt hat. Das Vorgehen der Kräfte der kapitalistischen Moderne basiert auf dem Verhältnis von Interessen, und Großbritannien handelte damals in diesem Sinne.
Sicher gibt es auch einen Grund, der umfassendere Fragen einschließt So befürchtete Großbritannien beispielsweise, dass die USA Deutschland im Krieg unterstützen würden, weil die Jüd:innen, die vor den Pogromen in Russland nach Amerika geflohen waren, Beziehungen zu den USA aufgebaut hatten. Um dies zu verhindern, begann Großbritannien, sich mit denjenigen Jüd:innen, mit denen Kontakt bestand, zu arrangieren und sich stärker für die jüdische Sache zu interessieren. Denn Russland stellte sich im Ersten Weltkrieg auf die Seite Großbritanniens gegen Deutschland. In dieser Zeit war Russland der Ort, an dem Pogrome gegen Jüd:innen am häufigsten vorkamen. Am Ende kam es nicht zum befürchteten Szenario, und Großbritannien war der Sieger des Krieges. In Russland entwickelte sich die Oktoberrevolution.
Später war die jüdische Bevölkerung aber vor allem den Massakern und dem Völkermord unter den Nazis ausgesetzt. Infolgedessen kam es zu einer verstärkten Einwanderung von Jüd:innen in den Nahen Osten. Mit all diesen Prozessen haben auch die arabisch-jüdischen Widersprüche und Konflikte zugenommen. Mit der Gründung des Nationalstaates Israel hat sich dieser Konflikt bis heute verschärft und vertieft. Die Flucht des jüdischen Volkes vor den Pogromen in Europa in den Nahen Osten war in der Tat ein richtiger und notwendiger Schritt. Denn im Nahen Osten wird die jüdische Gemeinschaft mit sich selbst in Kontakt kommen und ihre Entwicklung sicherstellen. Außerhalb des Nahen Ostens ist es für das jüdische Volk nicht möglich, sich als Gesellschaft zu entwickeln und seine Existenz zu sichern. Abdullah Öcalan erklärt dies in einer historischen, sozialen und aktuellen Analyse.
Die Tatsache, dass die Rückkehr des jüdischen Volkes in den Nahen Osten mit einer nationalstaatlichen Mentalität konzipiert wurde und der Prozess entsprechend durchgeführt werden sollte, führte jedoch zu gegenteiligen Ergebnissen. Zusätzlich zur nationalstaatlichen Mentalität hat das Vorhandensein historischer religiöser und sogar tribalistischer Auffassungen den Widerspruch weiter vertieft. Dies hat zu einer Situation geführt, die noch gefährlicher ist als zuvor, ganz zu schweigen davon, dass das jüdische Volk die Frage seiner Existenz überwinden und die Bedingungen schaffen muss, die seine Entwicklung gewährleisten. Man kann den Prozess folgendermaßen zusammenfassen: Die Geschichte des jüdischen Volkes und die Entwicklung des Völkermords, dem das palästinensische Volk heute ausgesetzt ist, sind ein Beispiel für Ergebnisse der Entwürfe, die mit einer etatistischen Mentalität gemacht wurden. Denn die Situation ist äußerst schmerzhaft. Das jüdische Volk kam in den Nahen Osten, in das Land Palästina, wegen der Massaker, denen es in Europa ausgesetzt war. Der Grund, warum die Jüd:innen Massakern ausgesetzt waren, die zu Völkermord führten, ist die staatliche Zivilisation in der Ausformung der kapitalistischen Moderne und das Verständnis des Nationalstaates. Aufgrund derselben Mentalität ist das palästinensische Volk jedoch Massakern und Völkermord ausgesetzt. Diese Situation ist in der Tat ein Beispiel, aus dem Lehren gezogen werden sollten. Es gibt wahrscheinlich kein anderes historisches Ereignis, das so beispielhaft und lehrreich ist wie dieses.
Der nationalstaatliche Ansatz verschärft die Probleme
Die Tatsache, dass Probleme mit dem Modell des Nationalstaats nicht gelöst werden können, sondern verschärft werden, zeigt sich am besten an der arabisch-jüdischen Frage, der Entstehung der kurdischen Frage und der Tatsache, dass diese Fragen ungelöst bleiben. Dies ist ebenfalls ein Ergebnis des nationalstaatlichen Ansatzes, wie auch andere Probleme im Nahen Osten auf eben diesem Ansatz beruhen. Da er im Nahen Osten nicht überwunden werden konnte, ist es auch nicht möglich gewesen, die Probleme zu lösen. Fast keines der Probleme wurde gelöst und keine Entwicklungen zu ihrer Lösung in Gang gesetzt. Wie der israelisch-palästinensische Konflikt zeigt, gibt es schwerwiegende Probleme, die jederzeit die gesamte Region in einen Krieg stürzen können. Dasselbe gilt für die kurdische Frage. Die genozidale, kolonialistische und nationalstaatliche Mentalität des türkischen Staates gegen die Kurd:innen und seine entsprechende Politik stehen in Zusammenhang mit Konflikten, Krieg und Völkermord im Nahen Osten. Diese Situation zeigt, dass es in Wirklichkeit keine Entwicklung gibt und dass das, was Entwicklung genannt wird, nur eine rein formale und keine echte ist. Außerdem ist die ständige Einmischung der Mächte der kapitalistischen Moderne in den Nahen Osten, ihre Gestaltung und Verwaltung des Nahen Ostens nach ihren Interessen ebenfalls dieser Mentalität geschuldet. Es waren die Kräfte der kapitalistischen Moderne, die den Nahen Osten auf der Grundlage von Nationalstaaten entworfen haben. Dieses System besteht immer noch. Wenn es eine Veränderung gegeben hat, dann in der Form der Intervention der USA und der NATO in einige Regime auf der Grundlage der Bedürfnisse des globalen Kapitalsystems. Dies stellt keine qualitative Veränderung dar. Der National-Etatismus bestimmt nach wie vor das vorherrschende Denken und die Politik im Nahen Osten.
Der Anteil des nationalstaatlichen Ansatzes an der gegenwärtigen Phase der Palästinafrage ist entscheidend. Der arabische Nationalismus gegen den jüdischen Nationalismus hat das Problem nicht nur nicht lösen können, sondern es sogar noch verschärft. Das geht so weit, dass er einerseits eine fanatische Haltung einnimmt, während er andererseits, wenn sich die Bedingungen ändern, die gegenteilige Haltung einnehmen kann. Die Tatsache, dass die arabischen Nationalstaaten nicht immer für die Sache des palästinensischen Volkes eingetreten sind, hat der palästinensischen Sache am meisten geschadet, insbesondere zu Beginn des Konflikts. Mit der offiziellen Gründung des Staates Israel nahmen die arabischen Nationalstaaten eine radikale Haltung gegenüber Israel ein. Im Laufe der Zeit haben der Widerstand gegen Israel und die palästinensische Sache jedoch eine politische Form angenommen.
Mit der Machtübernahme des Nasserismus (6) und später der Baath-Parteien (7) in Syrien und im Irak wurden die israelische Frage und die palästinensische Sache zu einer politischen Rivalität. Dieser Ansatz der arabischen Nationalstaaten hat auch eine unabhängige Entwicklung der palästinensischen Bewegung verhindert oder erschwert. Eine vereinheitlichende Herangehensweise an den israelisch-palästinensischen Konflikt ist ohne Zweifel falsch. Für das Verständnis der Wahrheit ist es wichtig, Ereignisse und Phänomene in ihrer historischen Entwicklung, ihren Zusammenhängen und Verflechtungen zu betrachten. Dies sollte jedoch nicht in der Form geschehen, dass alles gleich gemacht wird. Es sind die Mentalität und die Politik des israelischen Staates, die die palästinensische Frage geschaffen haben. Genau wie der türkische Staat leidet auch der israelische Staat an einer genozidalen Mentalität. Der israelische Staat geht mit dem palästinensischen Volk auf die gleiche Weise um, wie der türkische Staat mit dem kurdischen Volk. Der türkische Staat baut seine Existenz auf dem kurdischen Völkermord auf. In gleicher Weise hat der israelische Staat seine Existenz auf dem Völkermord und der Vernichtung des palästinensischen Volkes aufgebaut. Der auf dem arabischen Nationalismus basierende Ansatz hat diese Mentalität noch verstärkt. Diese beiden Nationalismen haben sich gegenseitig beflügelt.
Der jüdische Nationalismus sieht vor, dass Palästina vollständig zu Israel gehört und zu diesem Zweck die Araber:innen eliminiert werden müssen; der arabische Nationalismus sieht die Errichtung einer arabischen Souveränität in Palästina vor und dass zu diesem Zweck Israel zerstört werden müsse. Diese beiden nationalstaatlichen Ansätze, die von traditionellem Nationalismus und Religion geprägt sind, haben dazu geführt, dass die Frage angesichts der Verschärfung des Konflikts und des Völkermords am palästinensischen Volk nicht mehr gelöst werden kann.
Das Versagen der arabischen Nationalstaaten, sich die palästinensische Sache wirklich zu eigen zu machen und eine Lösung für das Problem zu finden, wirkte sich anfangs positiv auf die Entwicklung der palästinensischen Bewegung aus. Nach der Niederlage der arabischen Nationalstaaten gegen Israel im Jahr 1967 begann die palästinensische Bewegung zu erstarken und für die Befreiung des palästinensischen Volkes zu kämpfen, indem sie sich die palästinensische Sache wirklich zu eigen machte. Seitdem ist der Kampf des palästinensischen Volkes stärker geworden und wird in der ganzen Welt anerkannt. Die palästinensische Bewegung und der Kampf des palästinensischen Volkes wurden von den Völkern im Nahen Osten und in der ganzen Welt unterstützt.
Viele Menschen aus dem Nahen Osten und der Welt haben sich dem Kampf für die Sache des palästinensischen Volkes in den Reihen der palästinensischen Bewegung angeschlossen. Die Unterstützung der palästinensischen Sache in der Region und in der Welt beruht zweifellos auf der Tatsache, dass die palästinensische Bewegung eine sozialistische Sichtweise hat. Sie erhielt Unterstützung von vielen sozialistischen Ländern und Bewegungen, insbesondere von den Sowjets. Bekanntlich reiste die PKK auch in die Gebiete, in denen die palästinensische Bewegung präsent war, und führte Aktionen in Solidarität mit der palästinensischen Bewegung durch. In dieser Zeit kämpfte die PKK, die ihre Gründungsphase gerade erst abgeschlossen hatte, während des israelischen Angriffs auf Beirut an vorderster Front, und als Guerillabewegung hatte sie hier ihre ersten Gefallenen zu beklagen. Diese von der kurdischen Freiheitsbewegung geknüpften Beziehungen haben es den Völkern Palästinas und Kurdistans ermöglicht, bis heute solidarisch miteinander zu sein.
Dieser Artikel ist Teil der Palestine Series, einer digitalen Artikelserie zur Palästina-Frage. Teil 2 dieses Artikels und weitere kommende Artikel werden auf der Website veröffentlicht. Folgen Sie uns auf X und Instagram, um auf dem Laufenden zu bleiben.
References
1. Etatismus bezeichnet eine politische Annahme, nach der ökonomische, soziale oder ökologische Probleme durch staatliches Handeln zu bewältigen sind.
2. Abdullah Öcalan, leader of the PKK (Kurdistan Workers' Party), in solitary confinement in Turkey since 1999
3. “Towards a common fight for peace”, KR 224, p. 41 ff.
4. Die Hurriter:innen waren im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. an der Grenze zu Nordmesopotamien ansässig.
5. Die Amurriter:innen waren ein antikes Volk semitischer Sprache aus Vorderasien. Sie sind vor allem im Gebiet des mittleren Euphrat nachweisbar.
6. Hier geht es um den Widerspruch und Konflikte zwischen sesshaften Völkern in Stadtstaaten und nomadischen Völkern. Vgl. die Ausführungen Abdullah Öcalans zur Frühgeschichte des Mittleren Ostens in verschiedenen seiner Bücher.
7. Gamal Abdel Nassers (von 1952-54 Ministerpräsident Ägyptens) Version der Idee einer geeinten arabischen Nation vom Atlantik bis zum Persischen Golf wird als Nasserismus bezeichnet.
8. Die Ideologie des Baathismus verbindet nationalistischen Panarabismus und revolutionären Säkularismus mit den Elementen eines arabischen Sozialismus.