Der Beitrag übt Kritik an der Rolle, der Methodik und den Institutionen der modernen Sozialwissenschaft und stellt die Theorie und Praxis der Jineolojî- und Frauenakademien in Kurdistan vor. Seit der Erstellung des Papiers sind die Jineolojî-Arbeiten der kurdischen Frauenbewegung stetig gewachsen und zu einer Referenz für feministische Bewegungen auf der ganzen Welt geworden. So wurde beispielsweise das Andrea-Wolf-Institut in Rojava gegründet und in verschiedenen Ländern finden Jineolji-Camps statt. Die Reden auf der Konferenz wurden auch als Buch veröffentlicht.
Auf der Suche nach einem freien Leben in einer freien Gesellschaft, die eine Alternative zu Kapitalismus und Patriarchat darstellen kann, müssen wir die Gesellschaft, in der wir leben, verstehen, um sie auch verändern zu können. Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag auf die Rolle der Sozialwissenschaften und deren Bedeutung für progressive gesellschaftliche Alternativen eingehen. In meinem Beitrag konzentriere ich mich auf folgende Fragen:
Welche Rolle spielen die etablierten Sozialwissenschaften bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der HERRschenden Verhältnisse? – Welche Methoden und Institutionen werden dabei benutzt?
Welche radikalen Kritiken gibt es an den etablierten Sozialwissenschaften? Und wie kann die Suche nach Alternativen gestaltet werden?
Welche Ansätze wurden dazu in der kurdischen Bewegung entwickelt? Und was sind die Positionen und Beiträge von Abdullah Öcalan in diesem Diskurs?
1. Definition und Aufgaben der Sozialwissenschaften
In der kurdischen Bewegung und Gesellschaft wurde die Rolle der Sozialwissenschaften durch Abdullah Öcalans Verteidigungsschriften (u.a. Soziologie der Freiheit) neu thematisiert. Ihn bewegte insbesondere die Frage, warum der Realsozialismus und nationale Befreiungsbewegungen ihre Ideale und Ziele einer befreiten Gesellschaft nicht verwirklichen konnten. Vor diesem Hintergrund beschreibt Abdullah Öcalan das Modell einer „demokratisch, ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft“ als Alternative zu den Auffassungen von Revolutionen, die auf Umsturz und Machtübernahme abzielten. In diesem Kontext führt er den Begriff einer „ethischen und politischen Gesellschaft“ ein, die sich basisdemokratisch selbstverwaltet (und sich zur entmündigten, homogenisierten Konsumgesellschaft des Kapitalismus abgrenzt).
Der Prozess hin zu einer freien Gesellschaft kann nicht von außen, auf dem Reißbrett geplant und als ein fertiges Modell aufgedrückt werden. Denn dann wird die Gesellschaft erneut entmündigt. Vielmehr soll dieser Prozess von der Gesellschaft, gesellschaftlichen Gruppen und Individuen selbst gestaltet werden. Hierbei sind die gesellschaftlichen Moralvorstellungen (kollektives Bewusstsein und Ethik der Gesellschaft) und die Politikfähigkeit der Gesellschaft entscheidende Faktoren. Vor diesem Hintergrund sieht Abdullah Öcalan die Kernaufgabe der Sozialwissenschaften darin, in einem offenen gesellschaftlichen Prozess das freiheitliche Bewusstsein zu stärken und darüber Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu entwickeln.
Der heute gängige Begriff der Sozialwissenschaften steht im Widerspruch zu dieser Vision. Er wird – in Abgrenzung zu den Geistes- und Naturwissenschaften – als Sammelbegriff für alle wissenschaftlichen Disziplinen verwendet, die sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen beschäftigen. Aufgabe der etablierten Sozialwissenschaften ist es, das gesellschaftliche, menschliche Zusammenleben mittels einer bestimmten Theorie oder empirischer Verfahren allein zu untersuchen und zu erklären.
Obwohl sich die Sozialwissenschaften – im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften – mit „Forschungsgegenständen“ beschäftigen, die potentiell die Möglichkeit hätten, selbst an der Erkenntnisgewinnung mitzuwirken und Lösungen für ihre Fragen zu entwickeln, wird der Gesellschaft diese Möglichkeit vorenthalten. Abdullah Öcalan kritisiert deshalb, dass Menschen und gesellschaftliche Gruppen im Kontext der etablierten Sozialwissenschaften nicht als handelnde und denkende Subjekte, sondern nur als „Forschungsobjekte“ wahrgenommen werden.
Deshalb ist der Diskurs der Sozialwissenschaft – einschließlich vieler kritischer Theorien – so abgehoben, dass er für „normale Menschen“ kaum verständlich ist. D.h. die Mehrheit der Gesellschaft weiß weder, was diskutiert wird, noch kann sie mitdiskutieren. Jedoch sind wir alle mit den Auswirkungen dieser Wissenschaft, ihrer Logik und Methodik konfrontiert – häufig ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Das ist Grund genug, über Alternativen nachzudenken.
1.1 Konstruktion und Grundlagen der heutigen (Sozial-)Wissenschaften
Wenn wir die Grundlagen und Methoden der „etablierten“ Sozialwissenschaften verstehen wollen, müssen wir uns die Fragen stellen: Wer hat die Sozialwissenschaften zu welcher Zeit, an welchem Ort, mit welchem Interesse konstruiert und gestaltet?
In früheren Epochen versuchten Menschen, die Welt und das Leben über Beobachtungen der Natur, Mythen und Religionen zu erklären. Die „modernen“ Sozialwissenschaften, entwickelten sich aus den Ideen der europäisch-nordamerikanischen „Aufklärung“ im 17. und 18. Jahrhundert. An die Stelle mythologischer, theologischer und metaphysischer Erklärungsmuster trat eine Form der „Wahrheitssuche“, die von sich behauptet „wissenschaftlich“, d.h. „objektiv“ und „allgemeingültig“ zu sein.
Wenn wir uns die geschichtlichen Bedingungen vor Augen halten, unter denen die heutigen Sozialwissenschaften entstanden sind, dann ist da einerseits die Zeit der Volks- und Bauernaufstände, der Reformation und der Renaissance in Europa, in der die Allmächtigkeit der katholischen Kirche und ihr Wissensmonopol durch gesellschaftliche Widerstände infrage gestellt wurde.
Andererseits wurde schnell ein neues Wissens- und Wissenschaftsmonopol unter der Herrschaft der neuen Nationalstaaten aufgebaut. West-europäische Wissenschaftler wie Niccolo Machiavelli, Thomas Hobbes, John Locke, August Comte und Max Weber übertrugen empirisch-analytische Verfahren der Naturwissenschaft auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Vor diesem Hintergrund wurden die Sozialwissenschaften im 19. Jahrhundert von der Philosophie, von Ethik und Moralvorstellungen losgelöst und als ein gesonderter Wissenschaftszweig konstruiert, noch mehr aufgesplittet und institutionalisiert. Über staatliche Universitäten und Schulen wurden die „neuen Ideen“ institutionalisiert und vereinnahmt. Der Gottesglaube wurde durch Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt. Denn die neuen Eliten benötigten neue Erklärungsmuster und ein neues Weltbild, um die agrarischen Lebens- und Produktionsformen des Mittelalters durch Lebens- und Produktionsformen ersetzen zu können, die den Kapitalisten größere Profite versprachen. Ein mechanisches Weltbild war notwendig, in dem alles – Natur, Mensch, materielle und ideelle Ressourcen – in den Dienst des „Fortschritts“, d.h. des Profits gestellt werden konnte. Während die Sozialwissenschaftler den neuen, bürgerlichen Eliten zur Macht verhalfen, konstituierten sie sich selbst als eine neue Elite mit der Macht zu definieren und zu klassifizieren. Mit dem nationalstaatlichen Herrschaftsmodell und der kapitalistischen Industrialisierung in Europa gingen kolonialistische Expansionen und imperialistische Kriege einher.
Diese Vorgänge wirkte sich auch auf das Geschlechterverhältnis und die Konzepte patriarchaler Herrschaft aus: Frauen, deren Wissen und gesellschaftliche Rolle im Zuge der Hexenverbrennung in Europa dezimiert worden war, wurden aus der handwerklichen Produktion zurückgedrängt. Das Ansehen der landwirtschaftlichen Produktion wurde durch die Industrialisierung herabgestuft. Das „moderne“ patriarchale Kleinfamilienmodell beruhte fortan auf geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung: Frauen wurde die unentlohnte Haus- und Reproduktionsarbeit aufgebürdet. Sie wurden aus der Produktionsarbeit zurückdrängt (auch wenn die Wirklichkeit vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten anders aussah!).
Zugleich wurde Frauen der Zugang zu Bildung und Wissenschaft untersagt. Sie waren aus dem öffentlichen und politischen Leben der Städte ausgeschlossen. In der Gesellschaft wurden „getrennte Sphären“ geschaffen – von Männern und Frauen, von Proletariat und Bürgertum. Nicht umsonst nannte Francis Bacon das Zeitalter der modernen Wissenschaft „Die männliche Geburt der Zeit oder die große Erneuerung der Herrschaft des Menschen in der Welt“, woraus er schlussfolgerte „Wissen ist Macht“.
Diese kurze Situationsbeschreibung bietet einige Anhaltspunkte für die Rahmenbedingungen, die das Fundament der „modernen“ Wissenschaften bildeten, und die wiederum durch die „modernen“ Wissenschaften gefestigt werden sollten. Es wird deutlich, dass somit auch die Inhalte, die Methodik und die Institutionalisierung der Sozialwissenschaften mit der Durchsetzung eines Herrschaftsmodells in engem Zusammenhang steht steht, das sich durch Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Eurozentrismus legitimieren und aufrecht erhalten will.
2. Der Beitrag der Sozialwissenschaften zur Aufrechterhaltung der „HERRschenden NORMalität“
Um die angebliche „Objektivität“ und „Neutralität“ der Sozialwissenschaften zu entschleiern, will ich seine grundlegenden Methoden – Rationalismus, Positivismus und die Subjekt-Objekt-Spaltung (Dichotomie) – genauer unter die Lupe nehmen.
- Rationalismus
Dem Rationalismus zufolge ist das rationale Denken, die analytische Vernunft, für das Erkennen der Wirklichkeit entscheidend und ausreichend. Alle anderen Erkenntnisquellen werden als „irrational“ und „unvernünftig“ abgewertet. Der „ständige Fortschritt“ stellt ein Grundprinzip des Rationalismus dar. Hierauf bezieht sich auch die kapitalistische Wirtschaftstheorie des „ständigen Wachstums“. In dessen Folge wird jedes Mittel zur Ausbeutung von Mensch und Umwelt als legitim gesehen.
- Positivismus
Der Positivismus ist eine weitere wesentliche Methode der etablierten Sozialwissenschaften. Er beschränkt die Erkenntnisgewinnung auf „positive Befunde“, d.h. auf Phänomene, die sich beobachten lassen. Es wurden Gesetzesmäßigkeiten festgelegt, die gleichermaßen für die Natur- und Sozialwissenschaften gültig sein sollten. Der positivistischen „wissenschaftlichen Weltauffassung“ zufolge lassen sich wissenschaftliche oder philosophische Probleme nur auf drei Arten lösen: logisch, mathematisch oder empirisch. Alle anderen, unlösbaren Probleme wurden zu „Scheinproblemen“ erklärt. (Wiener Kreis 1924-36). Die Gesellschaft wird in diesem Prozess zu einem Versuchslabor gemacht, die anhand von Zahlen und Formeln messbar, berechenbar, überprüfbar und wohl auch kontrollierbar gemacht werden soll.
- Subjekt-Objekt-Spaltung (Dichotomie und Dualismus):
Dem positivistischen Verständnis entsprechend werden alle Elemente in gegensätzliche, einander ergänzende Begriffspaare aufgeteilt und untersucht. Es werden klare Grenzen gezogen, die das Denken, die Wahrnehmung und das gesellschaftliche Leben spalten: Alle Erscheinungen und Menschen werden entweder der einen oder der anderen Kategorie zugeordnet: Entweder schwarz oder weiß – Subjekt oder Objekt – richtig oder falsch – abstrakt oder konkret – Norm oder Abweichung… Mit der Spaltung wurden zugleich Hierarchien errichtet: Eine Kategorie der Gegensatzpaare wurde jeweils zur „herrschenden“, die andere zur „unterlegenen“ erklärt.
Es stellen sich die Fragen:
Wer hat die Definitionsgewalt? Sind die gesellschaftliche Realität und das Zusammenleben gradlinig, widerspruchsfrei? Können sie mit mathematischen Formeln erklärt werden?
Können sozialwissenschaftliche Methoden „allgemeingültig“ sein? Werden sie von Männern und Frauen, von Menschen aus verschiedenen kulturellen, sozialen Kontexten auf die gleiche Weise verstanden?
Wer bestimmt, welche Argumente als „nachvollziehbar“ gelten und welche zu „subjektiven Meinungen“ abgewertet werden?
3. Radikale Kritiken an den „etablierten“ Sozialwissenschaften
3.1 Kritiken an der Methodik
Die feministische Sozialwissenschaftskritik kritisiert die patriarchalen Konstrukte der „allgemeingültigen“ Vernunft, der „Objektivität“ und des „neutralen Subjektes“. Indem der Rationalismus die Vernunft des Menschen (= Mann) in den Mittelpunkt rückte, wurden Frauen ausgegrenzt. Männer, die diese Methodiken entwickelten, definierten sich als gestaltende, rationale Subjekte. „Unvernunft“, „Irrationalität“ und „Passivität“ hingegen wurden zu weiblichen Charaktermerkmalen erklärt. Frauen wurden zur „Ergänzung und zum Gegenstück“ des Mannes deklariert. Anhand dieser Methoden wurden Sexismus und Hetero-Sexismus mittels angeblicher „wissenschaftlicher Objektivität“ festgeschrieben und verinnerlicht. Später wurde dann der Begriff des „geschlechtsneutralen, rationalen Subjekts“ entworfen, wobei sich die „Neutralität“ wiederum am Vorbild des Mannes orientiert.
Damit geht die Sozialwissenschaft von Daten aus, die zwar „allgemein“ definiert werden, jedoch ein Ergebnis männlicher Normen sind. So werden bei empirischen Studien Fragebögen entworfen, die die Lebensrealität von Frauen ignorieren. Themen wie Hausarbeit, Rollenverhalten und sexistische Gewalt im „privaten“ Raum (Familie) werden nur am Rande behandelt. Es wird von einer „einheitlichen“ Gesellschaft ausgegangen, ohne zu berücksichtigen, dass Frauen individuell und strukturell von sexistischer Unterdrückung betroffen sind. Hierdurch werden sexistische Strukturen als „NORMalität“ verschleiert und festgeschrieben.
Ein weiterer wichtiger Ansatz entstand im Rahmen der Kritischen Theorie, zu der die Theoretiker der Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno u.a.) gehören: Sie kritisieren, dass die traditionellen Methoden der Sozialwissenschaft gesellschaftliche Fakten als Gegebenheiten hinnehmen. Dabei werde vergessen, dass diese Fakten keine naturgegebenen Tatsachen, sondern gesellschaftlich Gemachtes sind, in denen sich das Unrecht von Herrschaftsmechanismen verberge.
Wissenschaftliche Erkenntnis kann nicht von ihren Folgen losgelöst betrachtet werden (Atombombe, Gentechnologie…)
Kritik am Rechtspositivismus: Der positivistischen Logik folgend sind Gesetze dem wortlaut entsprechend anzuwenden, da sie durch den jeweiligen Gesetzgeber „legitimiert“ seien. (d.h. NS-Faschismus oder AKP-Regime sind demzufolge Rechtsstaaten)
Auch wenn es verschiedene KritikerInnen gab und gibt, beeinflussen Rationalismus, Positivismus und die Subjekt-Objekt-Spaltung die Sozialwissenschaften und das Denken bis heute sehr stark.
Auf diese Kritiken aufbauend hat Abdullah Öcalan in seinen Verteidigungsschriften eine grundsätzliche Kritik an diesen Methoden der Sozialwissenschaft formuliert. Er hält sie für ungeeignet, ja sogar gefährlich. Einige wichtige Punkte seiner Kritik sind:
Mit dem Rationalismus wurde das analytische Denken von ethischen Werten, von Empathie und gesellschaftlicher Verantwortung losgelöst. Diese Methoden erlauben es, logische Gedankenreihen und Berechnungen aufzustellen, deren Wege – dem jeweiligen Interesse und seiner Logik entsprechend – zu Genoziden, Feminiziden und der Vernichtung der Natur führen, und bis nach Fukosima, Hiroschima, oder Auschwitz reichen können.
Um die Gesellschaft erklären und Lösungen für ihre Probleme finden zu können, plädiert Abdullah Öcalan für eine Synthese aus analytischem und emotionalem Verstand. Denn nicht Verwertungslogik, sondern die Ethik einer demokratisch-ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft müsse der Bezugspunkt des sozialwissenschaftlichen Denkens sein.
Dabei müsse berücksichtigt werden, dass jede Erkenntnis objektive und subjektive Seiten habe – Bewusstsein und Weisheit entstehen letztendlich aus dem Zusammentreffen von dem Beobachteten und der BeobachterIn. In dieser Beziehung gibt es kein Subjekt und kein Objekt – sondern ein Zusammentreffen.
Bei seiner Kritik am Positivismus weist Abdullah Öcalan insbesondere auf die Gefahr hin, die Geschichte und die Gesellschaftsentwicklung anhand von „Naturgesetzen“ und geradlinigen, mathematischen Formeln zu beschreiben oder als eine bloße Ansammlung von Fakten wahrzunehmen: Denn die Dogmen des „Objektivitätsdenken“ und der „Universalität“ verleugnen Vielfalt, Willen und Aktionsfähigkeit der Gesellschaft.
Wenn Ereignisse– aus dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext rausgelöst – isoliert und äußerlich betrachtet werden, bleiben Ziel, Ursache und Wirkung unklar. Hierzu trägt auch die übertriebene Aufspaltung in unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen und Fachbereiche bei. Es hat sich gezeigt, dass Sozialwissenschaften, die nur Fakten aneinanderreihen und beschreiben, nicht dazu taugen, gesellschaftliche Probleme zu LÖSEN.
Den Dualismus, die Spaltung der Gesellschaft in Subjekte und Objekte; Wir und Die Anderen; Körper – Seele; Gott – Sklave; Tot – Lebendig usw. bewertet Abdullah Öcalan als ein weiteres Mittel zur Durchsetzung von Herrschaft. Hierdurch wird die Existenz von Übergängen zwischen den Kategorien und die gesellschaftliche Vielfalt jenseits dieser Kategorien geleugnet. Abdullah Öcalan führt weiter aus, dass dieses Herrschaftsprinzip geschichtlich gesehen zuerst zur Legitimation patriarchaler Herrschaft benutzt wurde. Später wurde die gleiche Methodik dann auch zur „wissenschaftlichen“ Legitimation von Klassenherrschaft, Rassismus, Imperialismus und anderer Unterdrückungsformen angewandt.
Auch die marxistisch-dualistische Interpretation der Gesellschaftsentwicklung anhand von „antagonistischen Widersprüchen“, bei der eine Klasse die andere vollkommen besiege, habe sich als unzureichend erwiesen. Die Dialektik von These-Antithese-Synthese erzeugt zwar Veränderungen, nicht aber unweigerlich die klassenlose, kommunistische Gesellschaft! Die Geschichte kann nicht in „abgeschlossene Kapitel“, nur aus der Perspektive der Herrschenden betrachtet werden. Denn die Geschichte – in der es zu allen Zeiten immer auch Kämpfe um Befreiung gegeben hat – wirkt in der Gegenwart fort.
Auf die Aussage Adornos verweisend: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen!“, betont Abdullah Öcalan die Bedeutung der Methodik. Eine Methode könne nicht losgelöst von ihrer Konzeption und den damit verbundenen Interessen betrachtet werden. Demzufolge müsse eine Methodik erarbeitet werden, die im Einklang mit dem Ziel einer freien Gesellschaft stehe. Geeignete Methoden zur Erforschung der Wahrheit müssen gefunden werden, ohne in einer Methoden-Inflation zu enden (nach dem Motto: „JedeR sucht sich ihre/seine eigene Wahrheit“).
3.2. Kritik an der Institutionalisierung der Sozialwissenschaft
Wie bereits erwähnt, ist es der Gesellschaft nie ermöglicht gewesen, an der sozialwissenschaftlichen Erkenntnisfindung mitzuwirken. Insbesondere Frauen, unterdrückte gesellschaftliche Klassen und Völker wurden von der Gestaltung dieser Wissenschaft, von der Bestimmung ihrer Methoden und Inhalte ausgeschlossen.
Die Universitäten und Institute, an denen über die Gesellschaft, über die verschiedenen Bereiche und des menschlichen Zusammenlebens geforscht wird, tun dies in einem von der der Mehrheit der Gesellschaft abgeschirmten, undurchsichtigen Raum. Zugleich bestimmt das System, das diese wissenschaftlichen Institutionen umgibt, sie aufbaut und fördert die Inhalte, Organisationsformen und personelle Besetzung dieser Institutionen. Da im Zeitalter der kapitalistischen Moderne die Geld- und Auftraggeber für Wissenschaft und Forschungen zumeist Staaten(-verbände), Armeen und Konzerne sind, wird deutlich, welchen Interessen sich Universitäten und sozialwissenschaftliche Institute unterordnen (müssen). Schon in den 1970er Jahren waren nahezu eine Million Wissenschaftler in Projekten des militärisch-technischen Sektors tätig.
Dies verdeutlicht erneut, dass Sozialwissenschaft und sozialwissenschaftliche Forschung nicht „wertneutral“ oder „objektiv“ sind. Sie werden durch Menschen (zumeist weiße, europäische Männer aus der Ober- und Mittelschicht) mit bestimmten Interessen gestaltet und weiterentwickelt: Über die Sozialwissenschaften werden „Wahrheiten“ und „Wirklichkeiten“ erzeugt, durch ihre Befunde werden unsere Kultur und Lebensformen geprägt.
Im wissenschaftlichen Prozess werden nicht nur gesellschaftliche Realitäten analysiert und beschrieben, sondern es wird auch ständig in sie eingegriffen. D.h. genauso wie die HERRschenden die Sozialwissenschaft und ihr gegenwärtiges Paradigma nutzen, um die Gesellschaft zu kontrollieren und ihren Interessen entsprechend zu formen, kann die Gesellschaft die Sozialwissenschaft mit einem neuen Paradigma auch nutzen, um diese Verhältnisse zu verändern!
4. Suche nach Alternativen
Im Rahmen der feministischer Wissenschaftskritik und der feministischen Wissenschaftstheorie bildeten sich bezüglich der Veränderung der herrschenden WissenschaftsNORM grundsätzlich 2 Strömungen heraus. Die entscheidende Frage ist: Sollen Frauen von außen oder innen in den Diskurs eingreifen? Muss es darum gehen bestehende Theorien, Methoden und Institutionen zu reformieren? Oder müssen wir neu denken, neu untersuchen und neue Institutionen aufbauen?
An diese entscheidende Frage anknüpfend möchte ich nochmals auf die Thesen Abdullah Öcalans eingehen. Er beantwortet diese Frage, vor der der feministische Wissenschaftsdiskurs steht, ganz klar mit: neu denken, neu untersuchen und neue Institutionen aufbauen!
Damit die Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Entwicklung und Umsetzung freiheitlicher gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Alternativen leisten können, müssen sie sich aus der materiellen und ideologischen Abhängigkeit vom System befreien und sich selbst als ein Teil des Widerstandes gegen die kapitalistische Moderne begreifen.
Für eine unabhängige Sozialwissenschaft ist der Aufbau unabhängiger und autonomer Einrichtungen eine Voraussetzung. Ihre Aufgabe ist es, sich an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren und zur Entwicklung einer demokratisch-ökologischen, geschlechterbefreiten Gesellschaft beizutragen. Alle wissenschaftlichen Arbeiten müssen von und für die ethische und politische Gesellschaft durchgeführt werden.
Abdullah Öcalan schlägt vor, auf der Basis von lokalen und regionalen Akademien eine Weltkonföderation der Akademien zu gründen. Hierbei könne jede kulturelle oder regionale Akademie ihr eigenes Programm, ihre Organisierung und Aktionsformen selbst bestimmen. Jedoch sollte es gemeinsame Prinzipien geben, wie z.B. die Unabhängigkeit von Staaten, Konzernen und Machtstrukturen. Es geht hierbei nicht um die Nachahmung der bestehenden, offiziellen Einrichtungen, sondern um neue, originelle Ansätze. Diese Akademien sollten ihre eigenen Lehrkräfte ausbilden, wobei ein ständiger Wechsel zwischen Lernenden und Lehrenden stattfinden sollte. Allen soll die Teilnahme – unabhängig von Schulbesuch oder Abschlüssen – möglich sein; von „HirtInnen bis ProfessorInnen“.
Jeder Berg, jedes Haus, jede Straßenecke kann in eine Akademie verwandelt werden. Es braucht keine starren Zeitpläne, aber gemeinsame ethische Regeln sind unbedingt erforderlich.
Darüber hinaus hält Abdullah Öcalan es für wichtig, dass Frauen ihre eigenen Akademien und Bildungseinrichtungen entwickeln und leiten. In diesem Zusammenhang hat er das Konzept der Jineoloji (kurdische Wortschöpfung, die soviel bedeutet wie „Wissenschaft oder Weisheit der Frau“) entworfen, mit dem es Frauen gelingen könne, die patriarchale Wissenschaftslogik zu durchbrechen und ihre eigenen gesellschaftlichen Alternativen zu entwickeln. Dieser Vorschlag wurde durch die Kurdische Frauenbewegung aufgegriffen und wird derzeit an vielen Orten diskutiert.
4.1 Jinologie – Theorie und Praxis für die Frauenbefreiung
Das Anliegen der Jineoloji (Wissenschaft / Weisheit der Frau) ist es, eine gesellschaftliche Wissenschaft zu entwickeln, die mit der patriarchalen Logik und Methodik der Wissenschaft bricht. Ausgehend von der Situation und den Bedürfnissen der Frau – die bislang verleugnet oder unsichtbar gemacht wurden – arbeiten Frauen daran, sich ein eigenes Verständnis zu erarbeiten und eigene Lösungswege aufzuzeigen.
Die Jineolojie ist nicht auf die sogenannte Frauenfrage begrenzt, sondern umfasst alle grundlegenden Menschheitsfragen, alle Beziehungen und Lebensbereiche. Denn Themen, die uns und unser Leben bestimmen, können wir nicht der Sozialwissenschaft unter männlicher Hegemonie oder anderen sexistischen Wissenschaftszweigen überlassen.
Hierbei geht es einerseits um eine umfassende Systemkritik, die die Infragestellung aller vorhandenen Religionen, Wissenschaftsauffassungen; nationalistischer, kapitalistischer und sexistischer Denkweisen beinhaltet. Dazu gehört auch eine genaue Hinterfragung und Analyse des Eurozentrismus und der patriarchalen Herrschaft.
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Erarbeitung einer Freiheitsdefinition, Philosophie und Ideologie; um die Hegemonie patriarchaler Denkmodelle sowie deren Einfluss auf die Seele, das Denken und Handeln von Frauen überwinden zu können.
Denn ohne umfangreiche theoretische Arbeiten, ideologische Kämpfe, programmatische und organisatorische Aktivitäten läuft auch der Feminismus Gefahr, in den Grenzen des Systems stecken zu bleiben.
Die Frauenkämpfe vergangener Jahrzehnte haben gezeigt, dass es ist nicht ausreichend ist, sich für rechtliche Gleichstellung einzusetzen. Denn die auch die formale, rechtliche Gleichstellung hat die systematische Gewalt gegen Frauen nicht stoppen können.
Vor diesem Hintergrund ist ein weiterer Aufgabenbereich der Jineologie, starke Perspektiven für den Frauenbefreiungskampf zu entwickeln.
Hierzu gehört auch, dass Frauen für alle Lebensbereiche ihre eigenen Vorstellungen und Alternativen entwickeln und umsetzen. Es ist ein Zusammenspiel aus Theorie und Praxis:
Neue Ökonomische Konzepte und Modelle, die nicht auf Konsum und Mehrwert basieren, sondern ökologisch, gerecht und bedürfnisorientiert sind; eine neue Definition von “Arbeit“, die unentlohnte Haus- und Reproduktionsarbeit einschließt
Aufbau von Produktions- und VerbraucherInnen-Kooperativen, die sich an Bedürfnissen von Frauen orientieren
Aufhebung der Trennung von „privatem“ und „öffentlichem“ Raum; Hinterfragung von Konzepten wie Liebe, Familie, Beziehungen und Ehe beim Kampf um die Befreiung der Frau und des sozialen Zusammenlebens
Entwicklung eines alternativen Bildungssystems und neuer Lebensformen mit dem Ziel freiheitliche Kriterien und ethische Normen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu entwickeln;
Entwicklung der notwendigen revolutionären Theorie und Praxis zur Frauenbefreiung – Programm, Organisierung und Aktionsfähigkeit
Stärkung der Selbstorganisierung und Selbstbestimmung von Frauen als Voraussetzung für befreite Gesellschaft
Entwicklung von Bewusstsein, Aktionsfähigkeit und Solidarität zur Selbstverteidigung gegen staatliche Gewalt und patriarchale Gewalt in der Gesellschaft
4.2 Akademien für ein freies Leben – Bsp. Frauenakademien in Kurdistan
Diese Konzepte sind nicht nur theoretische Ausführungen. Sondern sie werden von der kurdischen Bewegung, der Frauenbewegung und der Gesellschaft aufgenommen, diskutiert und umgesetzt. An vielen Orten – in verschiedenen Städten, Dörfern, in Flüchtlingslagern und in den Bergen Kurdistans – wurde mit dem Aufbau unabhängiger, alternative Bildungs- und Forschungseinrichtungen von und für Frauen begonnen. Ein Beispiel hierfür ist die „Frauenakademie Diyarbakir“, die am 30. Juni 2010 im Stadtteil Sur der kurdischen Stadt Amed gegründet wurde. Frauen aus allen sozialen Schichten beteiligen sich mit großem Interesse an den Angeboten. Lesen und Schreiben zu können ist keine Vorraussetzung für die Teilnahme, kann aber an den Akademien gelernt werden. Es werden gesellschaftliche, politische und kulturelle Themen durch wechselnde Kommissionen vorbereitet und zur Diskussion gestellt. Es gibt keine strikten Rollenverteilungen zwischen „Schülerinnen“ und „Lehrerinnen“. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass alle Frauen über Informationen, Wissen und Erfahrungen verfügen, die sie an der Akademie miteinander teilen und austauschen können.
Generell wird das Programm den Problemen, Bedürfnissen und Interessen der jeweiligen Frauen entsprechend zusammengestellt. Ein wichtiges Thema ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Frauen und Frauenbewegungen. Hierbei versuchen die einzelnen Frauen sich selbst und ihre Lebenssituation im Rahmen der geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu begreifen. Die Auseinandersetzungen mit der Sozialisation als Frau und patriarchalen Rollenbildern werden mit der Zielsetzung geführt, verinnerlichte Unterdrückungsmechanismen und Schicksalsergebenheit zu überwinden, sich als Frauen die eigene Geschichte, das gestohlene Wissen und Selbstbewusstsein zurückzuerobern. Darüber gewinnen Frauen die Kraft und den Mut, aus den vorbestimmten Bahnen auszubrechen, ihr eigenes Leben in die Hand zu nehmen, ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu stärken, persönliche und politische Entscheidungen selbst zu treffen. Zugleich können durch den gemeinsamen Lernprozess und Austausch Beziehungen zu anderen Frauen aufgebaut werden. Das kann hilfreich dabei sein, Vertrauen zu sich selbst und anderen Frauen zu gewinnen; Isolation und Konkurrenzdenken der patriarchalen Gesellschaft können so leichter überwunden werden.
Der Kerngedanke der Akademien ist es, Frauen dazu zu ermutigen, „die Wirklichkeit zu untersuchen, um mit unserem Wissen und dem neu Gelernten diese Wirklichkeit verändern und neu zu gestalten zu können; um ein schöneres Leben und eine freie Gesellschaft zu erreichen.“
Auch den Herrschenden scheinen die Sprengkraft und das Potential, welche sich aus einem Prozess der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung entwickeln können, bewusst geworden zu sein: Deshalb versucht die AKP-Regierung nun die Arbeit der Volks- und Frauenakademien in der Türkei und Kurdistan zu kriminalisieren. So wurden in den letzten Monaten Dutzende AkademikerInnen wie Prof. Büşra Ersanlı, Ayşe Berktay und Ragıp Zarakolu, JournalistInnen und andere Menschen im Rahmen der „KCK-Operationen“ verhaftet und angeklagt, weil sie an den Akademien unterrichtete hatten. Hunderte von SchülerInnen wurden verhaftet, allein weil sie an Seminaren teilgenommen hatten. Auch die Frauenakademien sind von den Repressionen betroffen, denn sie stellen mit ihrer Bildungsarbeit – die auch in der kurdischen Muttersprache durchgeführt wird – das System in seinen Grundfesten in Frage.
Jedoch gehen die Arbeiten und der Widerstand für den Aufbau einer neuen Bildung und Sozialwissenschaft weiter. So riefen ca. 400 AkademikerInnen aus der Türkei und Kurdistan die Kampagne „Auch wir wollen an den Akademien unterrichten“ ins Leben. Zahlreiche bekannte Akademikerinnen haben seitdem zu gesellschaftlichen, politischen und historischen Themen Seminare gehalten und damit ihren Beitrag zur Fortführung der Arbeiten an den Akademien geleistet. Denn auch sie sind davon überzeugt, dass es Alternativen zu den staatlichen Bildungsinstitutionen geben muss.
Abschließend und Zusammenfassend zu der Frage:
„Gibt es ist ein Bedürfnis nach einer radikalen Kritik und Alternativen zu den gegenwärtigen Sozialwissenschaften?“ – Wenn es ein Bedürfnis nach Veränderung der HERRschenden Verhältnisse gibt, dann JA!
Denn die Sozialwissenschaften produzieren und reproduzieren Gedanken und Denkweisen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse, das Zusammenleben, unsere Kultur und Lebensweise prägen. Wenn wir uns das Unrecht und die Zerstörungen vor Augen halten, die durch Sexismus, Rassismus und Kapitalismus sowie deren Legitimierung durch sozialwissenschaftliche Theorien und Methodik allein in den letzten zwei Jahrhunderten erzeugt wurden, dann wird die Dringlichkeit nach einer radikalen Kritik an den gegenwärtigen Sozialwissenschaften und die Notwendigkeit, neue Methoden und Institutionen aufzubauen mehr als deutlich. Diese müssen im direkten Bezug zum gesellschaftlichen Leben stehen; freiheitlichen ethischen Prinzipien verbunden sein und für alle Menschen zugänglich und verständlich sein.