Die Verbindung zwischen „Volksmacht“ und „Demokratischem Konföderalismus“

Kontext und Ziele

Das Konzept der „Volksmacht“ ist ein zentraler Bestandteil der lateinamerikanischen Linken, das sich auf die aktive und direkte Teilhabe der Menschen an politischen und sozialen Entscheidungsprozessen bezieht. Dieses Konzept wurde vor allem durch den Marxismus propagiert, einer ideologischen Strömung, die etliche revolutionäre Bewegungen in Lateinamerika beeinflusst hat. Weit davon entfernt eine enge Ideologie zu sein, stellt es mehr ein offenes Konzept für Bewegungen dar, bezogen auf ihre jeweiligen revolutionären Strategien.

„Volksmacht“ basiert auf der Idee, dass sich die Arbeiterklasse und die Sektoren der Basis organisieren und mobilisieren, um die Gesellschaft zu transformieren und ein gerechteres und gleichberechtigteres System aufzubauen. Ein neues System, meist Sozialismus, kann durch eine progressive Kontrolle der Produktionsmittel errungen werden, die es der Arbeiterklasse erlaubt, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Programme zu verwalten, zu organisieren und zu entwickeln. Organisierte Gemeinschaften identifizieren ihre Bedürfnisse selbst und suchen nach Möglichkeiten, die kollektiven Bedürfnisse entsprechend den Bedingungen der jeweiligen Umwelt und Region, zu beantworten. Dadurch werden das Soziale Gefüge sowie die Transformationsfähigkeit, basierend auf Produktivität und Arbeit, gestärkt.

„Die Erfahrung lehrt uns, dass die von uns entwickelten Projekte und Aktivitäten die Vorstellung einer neuen Gesellschaft verkörpern müssen.“ Ziel ist es, Erfahrungen in unterschiedlichen sozialen und regionalen Kontexten zu vervielfachen – ein stetiger Prozess, der Raum schaffen soll, in dem neue Erfahrungen entstehen und sich entfalten können. Ein Ergebnis könnte eine neue Wirtschaft sein, da sich eine Vielzahl an Verbänden und gesellschaftlichen Strukturen in sozialproduktive Gemeinschaftsprojekte verwandeln. Die Verknüpfung vielfältiger Erfahrungen wird durch die Entwicklung der politischen Bewegung erleichtert, welche die Förderung und Koordinierung der meisten dieser Erfahrungen im Rahmen eines einzigen Projekts ermöglicht.

Gemeinschaften nutzen kollektives Planen, um zu entscheiden was gemacht werden muss, wie vorgegangen wird und welche Vorteile zu erwarten sind. Andererseits stellen sich die „objektiven” Bedingungen letztendlich als unvermeidbare Schwierigkeit für die kollektiven Pläne dar. Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess zwischen den verschiedenen Organisationsebenen, von unten nach oben und umgekehrt, da die Planung zu einem Prozess des kollektiven Lernens und der Transformation wird.

Die Idee der Volksmacht strebt danach, die traditionelle, repräsentative Demokratie zu überwinden, die als unfähig angesehen wird, die Interessen und Rechte der Mehrheiten umzusetzen. Stattdessen wird eine partizipative Demokratie vorgeschlagen, in der Gemeinschaften und soziale Bewegungen zentral für den Prozess der Entscheidungsfindung sind. Volksdemokratie impliziert das Schaffen von Räumen für Teilhabe: unter anderem durch Volksversammlungen und Gemeinderäte, in denen Menschen über Politiken und Projekte entscheiden und diskutieren können, die ihr Leben direkt betreffen. Volksdemokratie bedeutet auch, ein kollektives Bewusstsein aufzubauen und Menschen zu mobilisieren, durch konkrete Aktionen und Handlungen, wie kooperative Infrastrukturen für die Reproduktion des Lebens, sozialen Wandel herbeizuführen. So kann eine neue Kultur entstehen und mit ihr eine neue Gesellschaft.

Das Experiment von Arauca

Das Gebiet Arauca liegt mit einer Fläche von 23.818 km und 300.000 Einwohnenden in der östlichen Region Kolumbiens. Arauca, seit dem Unabhängigkeitskrieg im 19. Jahrhundert durch seine lange Geschichte sozialer Kämpfe charakterisiert, galt schon immer als Rebellenhochburg. In den letzten 50 Jahren haben alle Gemeinden, die sich in diesem Gebiet ansiedelten, in großem Maße zum Aufbau ökonomischer, sozialer und politischer Alternativen beigetragen. Selbstverwaltung erscheint als Lösung für die konstante Vernachlässigung durch den Staat und seiner Institutionen, die anhaltende Verfolgung, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und die kaum bis gar nicht gewährleistete Befriedigung der Grundbedürfnisse. Dieses Gebiet teilt einen wichtigen Teil der Grenze zu Venezuela (mit fast 1.100 Kilometern Flussgrenze) was bedeutet, dass diese beiden Gebiete historisch wichtige Handels- und Kulturbeziehungen unterhalten. Um die sozialen Strukturen zu verstehen, muss man wissen, dass das soziale Gefüge in vielerlei Hinsicht, durch Migrationsprozesse sowie Schmuggel von Öl, Lebensmitteln, Vieh und anderen lebenswichtigen Gütern, über die Grenze hinweg besteht. Somit existieren gemeinsame kulturelle Ausdrucksformen als Teil der Eigenart des Ostens des Landes und dieser spezifischen Region Lateinamerikas.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist die Bolivarische Revolution zu einem Schlüsselfaktor für die Basisbewegungen in Kolumbien geworden – insbesondere in dieser Region, in der soziale Initiativen sowie Austausch aus einer revolutionären Perspektive stattgefunden haben.

Arauca wurde in den 1950er Jahren während des Krieges zwischen der Guerilla der Liberalen und Konservativen Partei durch die Vertreibung der Bevölkerung mit liberaler Gesinnung massiv kolonialisiert. Zu dieser Zeit kämpften Liberale für eine Landreform, ein Schlüsselthema des Klassenkampfes in Kolumbien seit der Gründung des Landes. Leute erzählen die Geschichte, wie sie sich über Jahrzehnte hinweg selbst organisieren und verwalten mussten, ohne jegliche Präsenz des kolumbianischen Staates – so begannen sie beispielsweise damit, eine Infrastruktur für kommunale Wasserversorgung aufzubauen, die gemeinsam mit den indigenen Gemeinschaften verwaltet wurde. Im Jahr 1957 gründete die Bevölkerung die Gemeinde „Saravena“, welche nach der massiven Mobilisierung der Einwohnenden 1972 ein Jahr später vom Staat anerkannt wurde.

Die Staatspräsenz zeigte sich historisch hauptsächlich durch Repression, Militarisierung und Kriminalisierung der Bevölkerung der Region. Aus diesem Grund wird der Staat als Gegner betrachtet und die Gemeinschaften lösen ihre Probleme seit den 1950er Jahren selbständig. Nichtsdestotrotz forderten die Gemeinden fortwährend den Bau von grundlegender Infrastruktur und die Förderung produktiver Projekte durch den Staat sowie private Ölunternehmen, indem sie durch verschiedene Mittel wie Streiks, Verhandlungen, Demonstrationen und Straßenblockaden, die teilweise über Wochen andauerten, Druck aufbauten.

Die Bewegung resultiert aus einer kontinuierlichen Suche nach Möglichkeiten, die sozialen Forderungen zu erfüllen, sodass die Menschen in ihren Gebieten unter würdevollen Bedingungen leben können. Sie ist jedoch weit darüber hinausgegangen und erreichte ein politisches Level, indem sie die lokalen Gemeinden dazu befähigte, ihren eigenen Plan für das Leben (plan de vida) zu entwickeln und umzusetzen. Dieser Plan hat verschiedene historische Wurzeln, verbunden mit vorangegangenen strategischen Zielen und integriert neue soziale Sektoren, permanente regionale Planung, Evaluationen und Umstrukturierung. Ebenso erlaubte die gemeinsame Anstrengung sieben verschiedener Gemeinden der Zentralregion die Anpassung und Erweiterung des Plans um fünf Sektoren: Arbeitnehmer und Gewerkschaften; Bauern und Kooperativen; Jugend und Studierende; ethnische Gruppen (schwarze und indigene Gemeinschaften) sowie zivilgesellschaftliche Organisationen (Frauen, LGBTQ, Menschenrechte und lokale Vereinigungen).

Im Zentrum der Kleinstadt Saravenas steht ein vierstöckiges Gebäude, in dem die lokalen alternativen Medien, der Jugendverband (ASOJER), die Menschenrechtsorganisation Joel Sierra Foundation, Gewerkschaften und andere Vereine ihre Büros haben. Ein paar Blocks weiter befindet sich die ECAAS, ein kommunales Unternehmen, welches die 50.000 Einwohnenden Saravenas mit dem saubersten Wasser des gesamten Landes versorgt. ECAAS verwaltet außerdem die Kanalisation und Abwasserversorgung; kürzlich begann sie mit der Versorgung von Haushalten mit Gas und plant zukünftig auch die lokale Erzeugung von Solarenergie.

Ganz in der Nähe befindet sich der lokale Radiosender, welcher Programme für und von allen Vereinen und organisierten Bereichen der Gesellschaft ausstrahlt. Nebenan sitzt die Genossenschaft, die vom lokalen Frauenverein hergestellte Schokolade sowie dutzend weitere, durch Kooperativen hergestellte Produkte und Lebensmittel, verkauft – darunter Käse, Rohzucker, Gemüse, Fleisch und vieles mehr.

Zentrale Errungenschaften

Die ECAAS hält alle sechs Monate eine Versammlung ab, auf der sich Delegierte aller Stadtviertel, Sektoren und Verbände treffen. Auch indigene Gemeinschaften, die sich um die Wasserquelle kümmern und sie schützen, nehmen teil. ECAAS ist eine gemeinnützige Organisation, die vom Staat verpflichtet ist, für alle Dienstleistungen Gebühren zu erheben und alle Einnahmen wiederum in die Dienstleistungen und den von den indigenen Behörden verwalteten Umweltfond zu reinvestieren. Jeder Sektor wählt seine Delegierten, die für die gesetzlich anerkannte Struktur arbeiten und diese verwalten. Der derzeitige Präsident, Bernardo Arguello, wurde zweimal der Rebellion beschuldigt und verbüßte etwa sechs Jahre im Gefängnis, bis er beweisen konnte, dass er ein bescheidener Diener seiner Gemeinschaft war. Die staatlichen Institutionen versuchten, rechtliche Gründe zu finden, um das Unternehmen zu schließen, hatten damit jedoch bis heute keinen Erfolg.

Eine der beteiligten Organisationen ist die Jugendorganisation ASOJER, in der sich Jugendliche aus städtischen sowie ländlichen Gegenden zusammenschließen. Kürzlich organisierte ASOJER einen Streik mit Blockaden, um von den Kommunalbehörden Zugang zu Transport und Lebensmitteln für alle Studierende zu erzwingen. So erreichten sie auch die Verpflegung durch lokale Kooperativen. Die meisten Schulen sind öffentlich, in ländlichen Gegenden gibt es aber auch einige, die durch Kommunen selbst organisiert werden, welche sich um kollektive, bäuerliche Gebiete versammeln, um Lebensmittel zu produzieren. Caño Limón ist beispielsweise ein Gebiet, wo sich hunderte, in den 90ern durch einen US-amerikanischen Ölkonzern vertriebene, Familien im Jahr 2013 ihr Land zurück eroberten. Die Ölfelder Caño Limóns stellen fast ein Drittel der gesamten kolumbianischen Ölerzeugung. Es ist ein militarisiertes Gebiet, welches langfristig an das Ölunternehmen Oxyd Petroleum, heute bekannt als SierraCol Energy, verpachtet ist. Niemand kann das Gelände betreten oder verlassen, ohne einen der Checkpoints zu passieren. Die Gemeinde Saravena war anfänglich mit bewaffneter Repression und Kriminalisierung konfrontiert, heute ist sie als selbstverwaltetes Bauerngebiet anerkannt und setzt sich für einen kollektiven Anspruch auf ihr Land ein.

Die von Bauern selbstverwalteten Gebiete sind Teil einer nationalen Strategie, mit der die Nationale Agrarkoordination (CNA, nach ihrer spanischen Abkürzung) versucht, zehn Millionen Hektar Land für die Landwirtschaft zu erhalten. Teil der Strategie war die verfassungsrechtliche Anerkennung der Bauern, die mit der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 1 durch den Kongress im Jahr 2023 verankert wurde. In diesen Gebieten werden Aktivitäten wie Landwirtschaft, Viehzucht, Forstwirtschaft und Fischerei sowie Kleinbergbau in Verbindung mit Landwirtschaft betrieben. Diese Aktivitäten ernähren die Bauernfamilien und die Bevölkerung der großen Städte, die mit ihren Produkten versorgt werden.

Ein Teil der Strategie der bäuerlichen Selbstverwaltung umfasst die Bildung einer unbewaffneten Wache, die sich aus Delegierten der lokalen Verbände zusammensetzt. Die Freiwilligen beider Geschlechter tragen einen symbolischen Stock, der die kollektive Autorität repräsentiert, welche ihnen durch die Gemeinschaft gewährt oder auch wieder verwehrt werden kann. Diese Wache schützt die Gemeinde vor Unterdrückung und hilft bei der Umsetzung kollektiver Vereinbarungen.

Volksmacht als eine Alternative im heutigen Lateinamerika

Im südlichen Teil des Kontinents hat die Beziehung zwischen emanzipatorischen Projekten und der Staatsideologie eine komplexe Geschichte. Der Prozess der Unabhängig von der Spanischen Kolonialmacht nährte den Glauben, dass der Aufbau eines starken und unabhängigen Staates für Menschen unabdingbar ist, um sich aus Unterdrückung zu befreien. Das Konzept der Volksmacht wurde in Lateinamerika von AnarchistInnen als eine klare Maxime gegen den Staat verstanden, MarxistInnen nutzten es ebenfalls, darunter auch jene, die denken, Sozialismus kann ohne die Kontrolle des Staates nicht erreicht werden. Das Beispiel der Kubanischen Revolution und anderer revolutionärer Versuche stützten die Idee, dass der Staat auch als Instrument zur Unterstützung der Volksmacht fungieren könne.

Wie wir in Kolumbien gesehen haben, nutzen Gemeinden die Mobilisierung der Menschen, um den Staat bezüglich Investitionen in die Infrastruktur unter Druck zu setzen; in einigen Fällen werden auch linke Parteien gegründet, die zum Teil des Staates werden, wie es in der heutigen Regierung der Fall ist. Die erste progressive Regierung Kolumbiens wurde im Jahr 2022 nach einem halben Jahr Volksaufstand gewählt. Diese Regierung ist das Ergebnis einer Koalition, in der beide Parteien konstant unter hoher Anspannung stehen. Einige hoffen, dass dies eine neue Ära für Kolumbien bedeuten könnte.

Im Falle Venezuelas wurde die Bolivarische Revolution vom Staat, durch das Ministerium für Volksmacht, gefördert, das den Basisprozess der Kommune unterstützte. Die in Kommunen organisierten Menschen bilden die treibende Kraft der Revolution. Ihre Stärke hat die Revolution aufrechterhalten und es ihr ermöglicht, internationale Blockaden und andere imperialistische Angriffe der Vereinigten Staaten von Amerika zu überstehen, darunter auch die Gefahr einer militärischen Invasion über die kolumbianische Grenze. Die imperialistische wirtschaftliche, politische und militärische Kontrolle der USA ist ein zentrales Thema für den gesamten Kontinent. Um diesem permanenten Druck etwas entgegensetzen zu können, sind anti-imperialistische Staaten und Regierungen essentiell. Progressive Regierungen wurden Anfang der 2000er Jahre ebenfalls zu einem Faktor, der die sozialen Bewegungen unterstütze, indem sie Finanzierungen der lokalen Wirtschaft und Bildung erwirkten. Darüber hinaus nutzten die Menschen den vom Staat geöffneten Raum, um ihren Kampf durch Landbesetzungen und die Formalisierung von Kollektiveigentum zu stärken.

Volksmacht und Demokratischer Konföderalismus: ein notwendiger Dialog

Das Konzept des Demokratischen Konföderalismus und das der Volksmacht unterscheiden sich in der Analyse des Staates, teilen jedoch gleiche Praktiken. Nach beiden Konzepten wird versucht, Raum für Selbstverwaltung zu schaffen, mit der sich die Gesellschaft ihre kollektive Fähigkeit, für die eigenen Bedürfnisse zu sorgen, zurückgewinnen kann. Über die Unterschiede hinaus kann der Dialog über Praktiken den globalen Kampf für Befreiung stärken.

*Bauer: Wir verwenden das Wort „Bauer“ (campesino) anstelle des geläufigeren Wortes „Landwirt“, um auf den Unterschied zwischen der sozialen Kategorie „Bauer“ und der Art der Arbeit aufmerksam zu machen. In Lateinamerika bezieht sich das Konzept des „Bauern“ auf Menschen, die in ländlichen Gegenden wohnen- unabhängig davon, ob sie Land besitzen oder nicht und auch, ob sie dieses bewirtschaften oder nicht. Ihre Kämpfe gehen über ihre Arbeit hinaus und schließen historische Identitätskämpfe mit ein.