Das Paradigma Öcalans wirft ein neues Licht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker

Der Kampf um die Befreiung Kurdistans, in den Grundzügen eine klassische Kolonie, hat im Laufe der Geschichte wichtige Stadien durchlaufen. Die letzten fünfzig Jahre des nahezu 200 Jahre andauernden Aufstands/Widerstands sind von der PKK und deren Vorsitzenden Abdullah Öcalan geprägt. Doch auch der von der PKK geführte Kampf hat sich in diesen fünfzig Jahren gewandelt und besteht bis heute, da er sich gegen weltweite Entwicklungen behaupten konnte.

Ohne eine kurze Zusammenfassung der politischen Geschichte Kurdistans sind die moderne freiheitliche Linie und die heutige Haltung der PKK nur schwer begreiflich. Die untenstehende Darstellung der allgemeinen politischen Geschichte Kurdistans folgt dem Kurs und der Perspektive in Abdullah Öcalans Verteidigungsschriften.

(I) 16.–20. Jahrhundert: eine kurze politische Geschichte Kurdistans

Bis in das 16. Jahrhundert war das Mirlik-/Beylik-Modell die soziale und politische Organisationsform Kurdistans. Diese Verwaltungseinheiten, bestehend aus Zusammenschlüssen oder Konföderationen von Stämmen, haben eine lange Tradition. Durch eine Politik des Machtausgleichs, die auf Beziehungen und Konflikten zwischen größeren Mächten aufbaute, konnten sie ihren autonomen Status über einen langen Zeitraum hinweg aufrechterhalten.

In den anhaltenden Konflikten zwischen dem Osmanischen und dem (iranischen) Safawiden-Reich im 16. Jahrhundert stellten sie sich auf die Seite des Osmanischen Reiches. Nach 1514 wurde ein Übereinkommen/eine Allianz zwischen dem osmanischen Sultan Selim und mehr als zwanzig kurdischen Emiren geschlossen. „Die überwiegende Mehrheit der Fürstentümer Kurdistans einigte sich mit der osmanischen Dynastie auf ein Abkommen zur Machtteilung, das einer Allianz Gleichgestellter entsprach.“ Diese Mīre unterstützen in Kriegszeiten die osmanische Armee und akzeptierten den Willen der Dynastie – im Gegenzug behielten sie ihre autonome Verwaltungsstruktur bei und erhielten sogar die Zuständigkeit für das Gerichtswesen. „Bis Anfang des 19. Jahrhunderts stand der Status des kurdischen Volkes dem des türkischen, turkmenischen oder arabischen Volkes in nichts nach, sondern war sogar höher“ (Öcalan, Bd. V). In osmanischen Quellen wird diese Struktur als Regierung Kurdistans bezeichnet. Dieses Übereinkommen galt fast drei Jahrhunderte lang.

Der wahre Zusammenbruch, Zerfall bzw. die Statusdifferenzierung in der politischen Geschichte Kurdistans entwickelte sich im 19. Jahrhundert. „Das osmanische Reich erkannte die Notwendigkeit einer Modernisierung und leitete insbesondere unter Sultan Mahmud II. (1839) eine Reihe von Reformen zur Umstrukturierung des Staates ein. Die Umstrukturierung der zentralen Bürokratie sowie des Steuer- und Militärwesens waren wichtige Faktoren für eine Entwicklung hin zum Nationalstaat. Vor dem Hintergrund dieser Reformen konnte das traditionelle kurdische Beylik-System nicht bestehen. Eine Billigung des Steuer- und Militärwesens hätte das Ende der kurdischen Fürstentümer bedeutet“ (Öcalan, ebd.). Die erste Welle der von den Mīren angeführten Aufstände waren die Folge.

A. Mit dem ersten Beylik-Aufstand, der von Sulaimaniyya (Babanzade-Dynastie von 1806) ausging, nahm diese Entwicklung ihren Anfang. B. Den größten Aufstand dieser Phase führte zwischen Juni 1841 und Juli 1847 Mīr Bedirxan, der Fürst von Botan aus Cizre, an. Mit der maßgeblichen Unterstützung Großbritanniens und Russlands, den Weltmächten jener Zeit, gelang es dem Osmanischen Reich, den Aufstand niederzuschlagen. Nach diesem Aufstand, einer frühen nationalen Bewegung, wurde das Mirlik-System zerschlagen. In vielen osmanischen Texten wird diese Entwicklung als „Eroberung Kurdistans“ bezeichnet. C. Anstelle der politisch aufgelösten autonomen Struktur Kurdistans wurde zwischen 1847 und 1867 die Provinz Kurdistan als Verwaltungsstruktur unter dem Osmanischen Reich gegründet. Diyarbakır wurde zu ihrem Zentrum. In der offiziellen Deklaration des Osmanischen Reiches heißt es, die Gründung der Provinz folgte aus der siegreichen Rückeroberung Kurdistans. Pascha Esat, der Gouverneur Mosuls, wurde zu ihrem ersten Verwalter ernannt. Mit der Abschaffung des gesamten osmanischen Provinzsystems wurde im Jahr 1864 auch die Provinz Kurdistan aufgelöst.

Trotz der Zerschlagung des Mirlik-/Beylik-Systems in Kurdistan gelang es dem Osmanischen Reich nicht, dort eine neue Ordnung herzustellen. In dieser Phase brauchte es einen neuen Vermittler. „Durch den Zerfall des Beylik-Systems rückte die religiöse Hierarchie in den Vordergrund. Die Niederlage des Bedirxan Bey und des Ezdanşer brachte die Institution des Scheichtums hervor, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker wurde, die Macht ergriff und eine Führungsrolle in der Gesellschaft einnahm. Insbesondere die Scheichs der Sufi-Orden Naqschbandīya und Qādirīya gewannen an Bedeutung“ (Öcalan, ebd.)

Als erstes Beispiel dieses neuen Führungsmodells entstand in einer Phase der relativen Schwächung des Osmanischen Reiches durch den Russisch-Osmanischen Krieg (1877–1878) die Scheich-Ubeydallah-Bewegung. „Sie hatte in weiten Teilen des osmanischen und iranischen Kurdistan großen Einfluss und nahm eine militärische Form an … es gelang ihr nicht, Unterstützung von den Hegemonialmächten jener Zeit zu erhalten, und sie wurde ineffektiv“ (Öcalan, ebd.).

Die wichtigste Folge des Zerfalls des autonomen Systems Kurdistans war eine rückschrittliche Fragmentierung und Zersplitterung, zurück zu Stamm und Familie. Dadurch verschärften sich interne Konflikte und hegemoniale Strukturen jener Zeit gewannen an Einfluss, was durch die Kurd:innenpolitik während der Regierungszeit des osmanischen Sultans Abdülhamid II. weiter verstärkt wurde. In Anlehnung an die russischen Kosakenregimenter, die dem Osmanischen Reich im Russisch-Osmanischen Krieg große Verluste zufügten, richtete er die Hamidiye-Regimenter (1891) ein, die aus kurdischen Stämmen bestanden. Zwar wurden diese Regimenter gegen die armenische und assyrische Bevölkerung eingesetzt, doch da sie eine mögliche kurdische nationale Bewegung im Keim erstickten, fügten sie (wie auch die Stammesschulen, 1892) der kurdischen Bevölkerung den größten Schaden zu.

Das Komitee für Einheit und Fortschritt, die treibende Kraft hinter dem türkischen Nationalismus (sowie dem weißen Faschismus), festigte die Kurd:innenpolitik, die durch die Hamidiye-Regimenter zum Ausdruck kam, und verstärkte diese durch vielschichtige Institutionen. Dieser Prozess führte zu einer Spaltung der kurdischen Bewegung: Eine Seite sprach sich für ein gemeinsames Vorgehen mit der türkischen Bourgeoisie, jedoch auf der Grundlage gleicher Rechte, die andere Seite für eine Trennung aus.

„Der Koçgiri-Aufstand (1919–1920) der separatistischen Tendenz war wichtig. Die aufständische Bewegung, die die im Nachhinein gegründete Azadi-Gesellschaft als Reaktion anführen wollte, erhielt mit der Diyarbakır-Dicle-Provokation vom 12. Februar 1925 einen frühen Urteilsspruch“ (Öcalan ebd.). Mit der Niederschlagung des Ararat-Aufstands von 1926–30 und des Dersim-Aufstands von 1937/38 endete diese Phase der Aufstände mit der Vorherrschaft des türkischen Kolonialismus.

Der Zeitraum 1940–70 wird in der politischen Geschichte Kurdistans als Friedhofsstille bezeichnet. Die Konzepte „Kurde/Kurdin“ und „Kurdistan“ verschwanden. Im politischen Diskurs traten rein wirtschaftliche Begriffe wie die „Orientalische Frage“, „Armut“ und „Rückständigkeit“ in den Vordergrund. In dieser Lage betrat die PKK die Weltbühne.

(II) 1972–99: Kampf der PKK

Die PKK-Bewegung zeichnet sich hauptsächlich dadurch aus, dass sie das Verständnis der kurdischen Frage und deren möglicher Lösung grundlegend verändert hat. Sie setzt die Welle der vorangehenden Aufstände nicht fort, sondern stellt einen Neubeginn dar: den Aufbau einer neuen politischen Tradition.

a. Jahre später beschrieb Öcalan das neue Verständnis wie folgt: „Das Konzept ‚koloniales Kurdistan‘ löste bei mir ein Zittern im Geist und im Herzen aus, und anschließend wurde ich zum ersten und zum letzten Mal ohnmächtig. Das kam mir sehr seltsam vor, doch spätere Entwicklungen würden zeigen, weshalb dieses Konzept eine solche Wirkung hatte. Es fällt mir jedoch immer noch schwer, die anfängliche Wirkung zu erklären. Die Entscheidung über die Wiederbelebung eines Konzepts in Ankara, zu einer Zeit, in der Kurdistan und das Kurdischsein mit dem Todesurteil bestraft und in seiner dunkelsten Form erlebt wurden, erfordert eine ernsthafte Analyse, die Gegenstand eines Romans sein könnte“ (Öcalan, ebd.).

b. Die auf Mīren und religiösen Obrigkeiten gestützte politische Vertretung und Aufstände, durch die die letzten 400 Jahre des Widerstands gekennzeichnet waren, hatten zur Spaltung und nahezu zur Auslöschung Kurdistans geführt. Ab den 1970-er Jahren übernahm eine neue Klasse den Widerstand. Die jungen Gründungsmitglieder der PKK entstammten den armen und unterdrückten arbeitenden und bäuerlichen Klassen Kurdistans.

c. Inspiriert wurde die PKK vom Widerstand und den Kämpfen des Realsozialismus, der Jugendbewegungen und der nationalen Befreiungsbewegungen der 1970-er Jahre. „Ohne den Realsozialismus wäre eine Organisation wie die PKK vielleicht nicht gegründet worden“, so Öcalan. Doch er fügt hinzu, dass die PKK zwar vom Realsozialismus beeinflusst war, „die gesamte Wirklichkeit der PKK jedoch nicht durch den Realsozialismus erklärt werden kann“.

Der Grund dafür ist das heterogene und vielschichtige Nebeneinanderbestehen der nationalstaatlichen und der demokratisch-sozialistischen Ideologie. „Wir waren nicht in der Lage, den Revisionismus des Realsozialismus zu bekämpfen. Allein unser Kampf gegen die primitiven nationalistischen und sozialchauvinistischen Ideologien war erfolgreich.“

Außerdem besteht das Hauptproblem der Gründung der PKK Öcalan zufolge in ihrer „Uneindeutigkeit zur nationalstaatlichen Ideologie“. „Stalins Thesen zur nationalen Frage hatten in dieser Hinsicht großen Einfluss. Stalin betrachtete die nationale Frage im Grunde als Problem des State Building. Diese Betrachtungsweise beeinflusste das gesamte sozialistische System und die nationalen Befreiungsbewegungen.“ „Die Tatsache, dass die meisten nationalen Befreiungsbewegungen, die in diesem Zeitraum (1950–1970er-Jahre) ihren Höhepunkt erreichten, zu eigenständigen Staaten führten, macht dieses Modell nahezu einzigartig.“

Eine vollständige Darstellung dessen, was die PKK in dieser Zeit hervorbrachte, ist hier nicht möglich. Wir können jedoch feststellen, dass sie eine starke demokratische Ader schuf, die tief in das Gebiet Kurdistans eindrang und die Unterdrückten und Frauen, die aus der Geschichte verdrängt worden waren, zum Subjekt ihres Widerstands machte. Öcalan beschreibt die PKK folgendermaßen: „Wir sind die Erschaffer und Vertreter der demokratischen Linie in der Geschichte und Politik Kurdistans.“.

Trotz des tiefgreifenden Wandels, den Öcalan herbeigeführt hatte, wurde er 1998 Ziel eines schwerwiegenden Angriffs durch die Weltmächte und in Folge einer Verschwörung festgenommen. Dieses Ereignis beschleunigte den Prozess des Hinterfragens, der 1995 angestoßen worden war. In dieser Zwangslage stand die Wahl zwischen Veränderung oder Niederlage. Das Bekenntnis zur Veränderung bahnte den Weg zu wichtigen Entwicklungen.

Öcalan versucht, die Fakten zu analysieren, durch die die Bewegung anlässlich der globalen Angriffe und der internationalen Verschwörung beinahe ans Ende gelangt war. Mit einer umfassenden Selbstkritik gegenüber den Konzepten Staat und Macht, dem Phänomen der Gewalt und dem Verständnis der Partei zieht er Fazit aus der Vergangenheit und legt die Ergebnisse in Form eines neuen Paradigmas vor. Damit erneuert er aus der Isolationshaft gewissermaßen die PKK und die freiheitliche Linie des kurdischen Volkes. Mit dieser Arbeit ebnet er zudem der Internationalisierung des Widerstands den Weg.

Der Schwerpunkt seiner Diskussion ist die 500 Jahre lange hegemoniale Entwicklung, die er als kapitalistische Moderne bezeichnet, sowie die Analyse der Auswirkungen dieser Entwicklung auf unsere Gedanken und Handlungen. Öcalan geht davon aus, dass der Nationalstaat einen der drei Grundpfeiler der kapitalistischen Moderne bildet, und entwirft auf dieser Grundlage ein neues Nations- und Lösungsmodell.

Betont werden muss, dass nicht die Definition des Problems, sondern die Neubetrachtung der Lösung den wichtigsten Aspekt dieses Veränderungsprozesses darstellt. In den 1970-er Jahren hatte Öcalan das türkische System als kolonial definiert; heute, selbst während seiner Gefangenschaft, definiert er das System als sowohl kolonial als auch genozidal – und das ist auch der Originaltitel des letzten Bandes des Manifests. Das unveränderliche Phänomen der Analyse Öcalans und der PKK ist die Definition der Herrschaft über Kurdistan als Kolonialismus. In seinen Schriften vertiefte Öcalan im Laufe der Zeit seine Analyse des Wesens des kolonialen türkischen Regimes. Die Diagnose war richtig, die Lösung jedoch problematisch. Eine neue Lösung musste her.

(III) Öcalan und die Strategie der demokratischen Nation

Diese Lösung ist das Herzstück des gesamten Paradigmas Öcalans. Sein Ansatz der demokratischen Nation ist sein Lösungsvorschlag gegen die nationalstaatliche Mentalität, gegen die Religion und den Nationalismus dieser Mentalität und für den demokratischen Konföderalismus als Alternative zum nationalstaatlichen Modell. Öcalan betont die Bedeutung dieses Phänomens: „Als eines der wichtigsten Ergebnisse mündete der von der PKK geführte revolutionäre Volkskrieg in einer tatsächlich existierenden demokratischen Nation.“

Öcalan zeigt, dass die Gründung eines Nationalstaats nicht der einzige Weg ist, über den Nationen ihr Selbstbestimmungsrecht verwirklichen können. Vielmehr kann der Ansatz des demokratischen Konföderalismus ein neuer Weg zur Ausübung dieses Rechts darstellen. „Die KCK, die wir demokratische und nicht-etatistische Interpretation des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in der kurdischen Frage bezeichnen können, muss als Ausdruck tiefgreifenden Wandels bei der Lösung der nationalen Frage bewertet werden“, so Öcalan. Für die Lösung der kurdischen nationalen Frage lehnt die KCK am Nationalstaat ausgerichtete Ansätze ab. Stattdessen verfolgt sie ein vom Paradigma der demokratischen Nation inspiriertes Modell, das auf dem Recht der Kurd:innen, eine Nation zu bilden, sowie deren Transformation in eine nationale Gesellschaft durch demokratische Autonomie aufbaut.

Auch hier lässt sich die Kritik am Nationalstaat wie folgt zusammenfassen: „Die Lösung nationaler und gesellschaftlicher Probleme vom Nationalstaat abhängig zu machen, stellt den tyrannischsten Aspekt der Moderne dar. Von einem Instrument, das die Probleme produziert, auch deren Lösung zu erwarten, führt zu einer lawinenartigen Vergrößerung der Probleme und ins gesellschaftliche Chaos. […] Der auf dieser krisenhaften Stufe ins Spiel gebrachte Nationalstaat stellt die am höchsten entwickelte Gewaltorganisation der Gesellschaftsgeschichte dar. Herrschaft bedeutet die gewaltsame Belagerung der gesamten Gesellschaft; sie ist das Instrument, um die Gesellschaft, die durch das maximale Profitstreben des Kapitalismus und den Industrialismus zersetzt wird, durch Zwang zusammenzuhalten.“ „Für die Gesellschaften ist das Modell des Nationalstaates nichts als eine Falle und ein Netz von Unterdrückung und Ausbeutung.“

Die demokratische Nation dagegen ist „die gemeinsame Gesellschaft, die freie Individuen und Gemeinschaften aus eigenem Willen bilden. Die vereinende Kraft der demokratischen Nation ist der freie Wille der Individuen und Gruppen, die beschließen, zur gleichen Nation zu gehören.“ „Die Definition der demokratischen Nation, die nicht an starre politische Grenzen, eine Sprache, Religion und Geschichtsinterpretation gebunden ist, bedeutet das solidarische Zusammenleben pluralistischer Gemeinschaften von freien und gleichen Bürgern.“ Nur mit einem solchen Nationsmodell kann eine demokratische Gesellschaft Wirklichkeit werden.

In Bezug auf die Kurd:innen betont Öcalan zwei Dimensionen dieses Ansatzes: „Die erste ist die mentale Dimension. Damit ist die Dimension der Existenz derjenigen gemeint, die die eigene Sprache, Kultur, Geschichte, Wirtschaft und Siedlungszentren nicht vernachlässigen, sondern ihr Bewusstsein über diese Grundbereiche in einem Gefühl der Solidarität zusammenführen und eine geistige Welt teilen. Hauptkriterium dieser Dimension ist, im Geiste den Traum und das Projekt einer gleichen und freien Welt, die auf Verschiedenheiten beruht, zu teilen. […] Wie wird die Gesellschaft gemäß der gemeinsam geteilten nationalen Gedankenwelt neu ausgerichtet? Diese Neuausrichtung der physischen Existenz erfolgt auf der Grundlage der demokratischen Autonomie. Die demokratische Autonomie können wir im weiteren und im engeren Sinne definieren. Im weiteren Sinne bedeutet die demokratische Autonomie die demokratische Nation, im engeren Sinne demokratische Leitung. […] Für die Kurden ist die Akzeptanz der demokratischen Autonomie die Grundlage für eine Einigung mit den Nationalstaaten.“

Vor diesem Hintergrund können wir die Grundaussagen des Öcalan-Paradigmas für die Lösung nationaler Probleme und die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts wie folgt formulieren:

ERSTE THESE: Das Modell der demokratischen Nation ist eine Strategie zur Dekolonisation durch die Schaffung eines freien Individuums und einer freien Gesellschaft.

I. Alle wichtigen Denkenden und Handelnden in der Tradition des antikolonialen Widerstands nähern sich dem Kolonialismus auf Grundlage zweier Hauptgedanken. Ihrer Aussage zufolge ist Kolonialismus eine zweidimensionale Beziehung. Dabei ist die Form, die die Kolonisierten während ihrer Gefangenschaft annehmen, für die Fortsetzung des Kolonialsystems ein ebenso wichtiger Faktor wie die Kolonisierenden. Kwame Nkrumah sagt beispielsweise, dass sich „ein Volk, das über lange Zeit ausländischer Herrschaft unterworfen war, womöglich an die Abhängigkeit gewöhnt“. Frantz Fanon schreibt hierzu: „Die Dekolonisation ist wahrhaft eine Schöpfung neuer Menschen“ und „das kolonisierte »Ding« wird Mensch gerade in dem Prozeß, durch den es sich befreit.“ Aimé Césaire schreibt, dass „der Kolonialismus das kolonisierte Subjekt nicht nur ausbeutet, sondern es auch entmenschlicht und zum Objekt macht“. Nachdem Öcalan erklärt hat, dass Kurdistan einen Kolonie ist, macht er folgende zweite strategische Aussage: „Das kurdische Volk wurde gedemütigt“. Der Kolonialismus hat das kurdische Volk zu einem Grad erniedrigt, den es niemals hätte hinnehmen oder billigen dürfen.

Von diesem Standpunkt aus ist es offensichtlich, dass der Bruch mit dem Kolonialismus mit dem von den Kolonialist:innen geschaffenen Volk nicht möglich ist. Der Widerstand und der Kampf gegen den Kolonialismus kommen deshalb gleichzeitig der Schöpfung eines neuen Menschen gleich. Nur ein Individuum, das sich mit den Spuren des Kolonialismus in sich selbst auseinandersetzt, kann zum Subjekt der Lösung des nationalen Problems werden.

II. Da kolonisierte Individuen, von Fanon als „Dinge“ beschrieben, keine Gesellschaft bilden können, wurde der Wiederaufbau der Gesellschaft, wie der des Individuums, zum Hauptbestandteil des antikolonialen Widerstands. Im Falle Kurdistans ist offenkundig, dass eine fragmentierte, tote Gesellschaft, die in Städte, Dörfer, Viertel und Familien, ganz zu schweigen von sprachlichen, religiösen, konfessionellen und sexuellen Unterschieden, gespalten ist und ihre Wut an sich selbst auslässt, erst befreit werden kann, wenn sie ihre gesamte Kraft erlangt.

III. Dem Modell der demokratischen Autonomie gelingt es, zu einer Kraft gegen den Kolonialismus zu werden, indem es dem Individuum und der Gesellschaft, die durch den Kolonialismus geschaffen wurden, ein neues Individuum und eine neue Gesellschaft entgegenstellt, und zwar mithilfe zweier Dimensionen:

1) Es geht von der kleinsten gesellschaftlichen Einheit der Ebene der Kommune, des Dorfes und des Stadtteils aus und ist von unten nach oben organisiert. Diese Organisationsform fungiert auch als Ort der Auseinandersetzung, Begegnung, Selbstheilung, gegenseitigen Weiterbildung und der Stärkung des Individuums gemeinsam mit anderen Mitgliedern. Die demokratische Nation wird Schritt für Schritt aufgebaut, Ring um Ring und geht immer von unten aus. 2) Aus dem demokratisch-autonomen Modell entsteht außerdem ein direktdemokratisches Modell, indem es alle Hürden und Begrenzungen der liberalen Demokratie sowie deren repräsentativer Natur überwindet. Es baut auf einem Fluss aus Beschlüssen und Entscheidungsgewalt von unten nach oben auf. Es begründet das Recht des Individuums, das durch den Kolonialismus willensschwach und passiv geworden ist, zu einem Mitspracherecht über sein Leben und alle gesellschaftlichen Beschlüsse.

Ausgehend von diesen beiden Dimensionen und im Gegensatz zu der Kampflinie, die allein einen Nationalstaat zum Ziel hat, werden auch die Überwindung des Sexismus, die Schaffung einer neuen Form sozialer Beziehungen mit der Freiheit der Frau im Mittelpunkt sowie die kulturelle und praktische Entwicklung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse in Harmonie mit der Natur zu einem Teil des Lösungsmodells auf Grundlage des demokratisch-autonomen Lebens. Der Kampf der freien Frauen bildet bereits heute das Fundament sowohl der demokratisch-autonomen Gesellschaft als auch der Nation. Es ist offensichtlich, dass es keine größere Macht gibt als eine Gesellschaft, die sich organisiert und interne demokratische Verhältnisse hergestellt hat.

ZWEITE THESE: Die Lösung der demokratischen Nation ist eine antikoloniale Strategie, die in der Lage ist, die kolonialen Verhältnisse in demokratische Verhältnisse umzuwandeln oder sie zu zerschlagen.

Sie vermag es, das Band zur herrschenden Nation neu zu knüpfen und auf vielerlei Art und Weise umzugestalten. Damit könnte auch das gesellschaftliche Modell der demokratischen Autonomie beibehalten werden. In diesem Zusammenhang sollen drei Ansätze hervorgehoben werden:

a) Einer der Ansätze, die Öcalan in seiner Verteidigung und seinen Diskussionen vorgestellt hat, ist die Lösungsfindung durch einen Kompromiss. Öcalan formuliert diesen Ansatz als Demokratie + Staat. Er gründet auf der Einigung mit dem herrschenden Nationalstaat und kann je nach Haltung des herrschenden Staates umgesetzt werden. „Die demokratische Autonomie ist die Mindestbedingung für das Zusammenleben mit den Nationalstaaten mit herrschenden Ethnien unter einem gemeinsamen politischen Dach. […] Hauptbedingungen dieses Prinzips sind der Verzicht des souveränen Nationalstaats auf jegliche Politik von Verleugnung und Vernichtung und die Abkehr der unterdrückten Nation von der Idee, einen eigenen Mini-Nationalstaat zu gründen. Solange sich beide Nationen nicht von solchen etatistischen Tendenzen abwenden, ist [sic!] kann das Projekt der demokratischen Autonomie kaum umgesetzt werden.“

b) Geht der herrschende Nationalstaat diesen Kompromiss jedoch nicht ein, baut die unterdrückte Nation das System der demokratischen Autonomie dem Nationalstaat zum Trotz mit eigenen Mitteln/aus eigener Kraft auf, ohne sich vollständig von der Möglichkeit eines Kompromisses abzuwenden. Eines der wichtigsten Phänomene innerhalb dieses Modells ist der Aufbau eines Selbstverteidigungsmechanismus. Ohne den Aufbau einer Widerstands- oder Verteidigungskraft zum Schutz des eigenen Modells wird die Umsetzung des Modells nicht möglich sein. Als Beispiel dafür dient das Rojava-Modell: Die Kurd:innen „werden davon nicht abrücken, im Kampf bis zu einem möglichen Kompromiss oder bis zur Erlangung der Unabhängigkeit auf der Grundlage der Selbstverteidigung das Dasein als demokratische Nation in all seinen Dimensionen und aus eigener Kraft zu entwickeln und zu verwirklichen.“

c) Einer der wichtigsten und grundlegenden Aspekte der Strategie der demokratischen Nation ist der demokratische Wandel der herrschenden Nation.

Denn einer der Grundpfeiler dieser Strategie besteht darin, mit dem sozialen Gewebe und der demokratischen Struktur der herrschenden Nation in Verbindung zu stehen und die Demokratisierung der herrschenden Nation anzustreben. Damit die unterdrückte Nation an der demokratischen Revolution der herrschenden Nation teilhaben und dieser Kraft spenden kann, muss sich zunächst der koloniale Charakter des herrschenden Nationalstaats wandeln.

Bekanntermaßen ist der Kolonialismus nicht bloß eine Beziehung, die auf militärischer Gewalt basiert, sondern er bringt auch die Zerrüttung, Zersprengung und vollständige Übernahme des internen Entwicklungsprozesses und des natürlichen Flusses der kolonisierten Gesellschaft durch die Kolonialmacht mit sich. Diese beutet alle wirtschaftlichen Ressourcen der kolonisierten Gesellschaft aus und macht sie zu einem Teil des eigenen Wirtschaftssystems. Sie assimiliert die kolonisierte Gesellschaft kulturell und sprachlich und bringt eigene militärische, administrative und wirtschaftliche Vertreter:innen innerhalb des kolonisierten sozialen Gewebes hervor.

Eine weitere Möglichkeit zur Überwindung der kolonialen Verhältnisse besteht in der Mitwirkung an einem Wandel des kolonialen Zentrums, der staatlichen und administrativen Struktur durch einen demokratischen Kampf und die Einbindung dieses Kampfes in die eigene Strategie. So entsteht einerseits eine neue Beziehung zu der herrschenden Nation jenseits der kolonialen Beziehung, andererseits ein autonomer Raum, der mit der Zeit die durch das koloniale Leben verursachten Schäden reparieren kann.

In dieser Hinsicht wurde die Lösungsstrategie stets als duale Dimension formuliert, beispielsweise als „Demokratische Türkei, freies Kurdistan“. Für die Verwirklichung des Paradigmas wurde die Bildung von Versammlungen und Parteien für beide Bestandteile dieses Leitsatze als notwendig erachtet. Die HDK-HDP (Demokratische Partei der Völker) hat den Weg zur Demokratisierung der Türkei aufgezeigt und ist zur stärksten Oppositionskraft geworden. Der DTK (Kongress der Demokratischen Gesellschaften) und die DBP (Demokratische Partei der Regionen) organisierten und repräsentierten Kurdistan.

So kann eine demokratische Beziehung an Stelle der kolonialen Beziehungen treten. Das wiederum führt zu einer Überwindung des Kolonialismus, was die PKK seit ihrer Gründung zum Ausdruck gebracht hat. Um Kurdistan zu gewinnen, muss auch die Türkei gewonnen werden. Damit bestreite ich nicht, dass das Prinzip des gemeinsamen Widerstands und der Zusammenarbeit der Völker, das sich aus den sozialistischen Identitäten und Widerstandserfahrungen der PKK und Öcalans herausbildete, bereits vorhanden ist. Ich konstatiere lediglich, dass nur diese Erfahrung und diese Merkmale ein solches Paradigma hervorbringen und es zu einem unabdingbaren Bestandteil eines neuen Lösungsansatzes der kurdischen Befreiungsbewegung machen können.

Was Kurdistan betrifft, werden heute alle drei oben erwähnten Möglichkeiten in der Praxis angewandt.

DRITTE THESE: Die Lösung der demokratischen Nation ist die Strategie zur Begründung eines neuen Internationalismus.

Im Mittelpunkt der Gesamtstrategie stehen die Überwindung der kapitalistischen Moderne und der Aufbau der demokratischen Moderne.

Nach dem Erfolg der nationalen Befreiungsbewegungen in den 1960-er Jahren wussten die politisch Verantwortlichen und die politischen Bewegungen jener Zeit sehr wohl, dass sie ihre neuen Nationalstaaten nicht allein mit eigenen Mitteln aufrechterhalten konnten. „Zur Überwindung der internationalen Hierarchie erachteten sie es als notwendig, eine neue Welt aufzubauen.“ Bei diesem Unterfangen, das als „antikoloniale Weltgestaltung“ bezeichnet wird, legten sie mehrere Strategien vor:

Erstens verstärkten antikoloniale Nationalist:innen mittels des Rechts auf Selbstbestimmung die <u>juridischen Vorkehrungen</u> gegen ausländische Interventionen und Übergriffe. [Zudem versuchten] sie, die Ausübung von Beherrschung durch rechtliche Instrumente einzudämmen und zu begrenzen. Zweitens waren diese Nationalist:innen durch die Gründung <u>regionaler Föderationen</u> auf den Westindischen Inseln und in Afrika bestrebt, die der globalen Ökonomie inhärenten wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden, indem sie regionale Institutionen organisierten, die egalitär aufgestellt waren und redistributiv wirken sollten. Und schließlich forderten sie mit der <u>Neuen Weltwirtschaftsordnung</u> die in der internationalen Sphäre bestehenden ökonomischen Hierarchien auch direkt heraus“ (Adom Getachew).

Bald zeigte sich, dass die Resolutionen der UN-Vollversammlung (z. B. die Deklaration 1514 vom 14. Dezember 1960, „Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker“) oder die Gründung kurzzeitiger Föderationen (z. B. der Union afrikanischer Staaten, der Westindischen Föderation, 1958–1962, oder der Ghana-Guinea-Union, 1958) als juridische Vorkehrungen zu keiner Lösung führten. Auf ihrem Höhepunkt versuchten sich die nationalen Befreiungskämpfe durch die Begründung eines Internationalismus des Nationalstaats innerhalb des globalen Systems zu schützen. Zum Zwecke des Selbsterhalts begannen diese neuen Nationalstaaten jedoch bald mit einer autoritären Machtausübung gegenüber der von ihnen „befreiten“ Gesellschaften oder mit der Gewaltanwendung gegen unterschiedliche Meinungen innerhalb der eigenen Staaten. Die antikolonialen Bewegungen erkannten die kolonialen Grenzen, die sie geerbt hatten, an und pochten auf ihre territoriale Integrität. Daraus entstanden viele Konflikte, wie die Kongo-Krise von 1960 und der Biafra-Krieg in Nigeria zwischen 1967 und 1970. Die bedeutende historische Dynamik konnte nicht aufrechterhalten werden und das Recht der Nationen zur Selbstbestimmung verlief im Sande. Dieses historische Erbe führt uns vor Augen, dass eine Lösung, die auf dem Nationalstaat beruht, nicht das Schicksal der Völker bestimmen darf und sie nicht vor der Einbindung in das globale System schützen kann.

Das Paradigma der demokratischen Nation dagegen kann den Weg zur Gestaltung einer neuen Welt weisen, in der alle Nationen frei leben können. Das Paradigma betont außerdem, dass der Welt-Konföderalismus als neues internationales Projekt auf die Tagesordnung gesetzt und verwirklicht werden kann. Wir sind überzeugt, dass ein solches Projekt uns in die Lage versetzen wird, die kolonialen Verhältnisse und Unterdrückungsmechanismen, die wir als Nationen erfahren, zu überwinden und den Wirkungsbereich der kolonialen Zentren und der globalen Hegemonie, die sie nährt, einzugrenzen. Dieser neue, vom Öcalan-Paradigma angestrebte Internationalismus erleichtert außerdem die Lösung nationaler Probleme hinsichtlich des Selbstbestimmungsrechts.

Einer der wichtigsten Kritikpunkte am frühen Marxismus besteht darin, dass er keine nationalen Fragen berücksichtigte und keinen taktischen, auf den Einzelfall bezogenen Ansatz verfolgte. Die Lösung des Realsozialismus war nicht mehr zeitgemäß. In diesem Sinne kann die Lösung der demokratischen Nation auch als Entwurf einer sozialistischen Nationstheorie betrachtet werden, die zur Stärkung der sozialistischen Theorie beiträgt.

Wir können schließen, dass es nur mit dem Öcalan-Paradigma möglich ist, unser Schicksal tatsächlich in die eigenen Hände zu nehmen, und zwar in drei Schritten und mit einem ergänzenden Rahmenwerk: 1.) eine autonome demokratische Organisation mit eigener Gesellschaftsstruktur aufbauen, 2.) zur Hauptdynamik für den demokratischen Wandel der regionalen Kolonialmächte werden, 3.) den Spielraum der kapitalistischen Moderne durch den Aufbau einer starken internationalen Einheit und Solidarität mit allen Kräften der demokratischen Moderne eingrenzen. Werden diese drei Kampflinien gleichzeitig umgesetzt, wird das Problem der Freiheit unserer Völker gelöst.

References
1. Abdullah Öcalan: Manifest der demokratischen Zivilisation. Band V (Kürt Sorunu ve Demokratik Ulus Çözümü). Noch nicht auf Deutsch erschienen. Die Übersetzungen der Zitate Öcalans sind, soweit vorhanden, der Broschüre „Demokratische Nation“ der Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“ entnommen, ansonsten eigene Übersetzungen. 2. Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Übersetzung: Frank Lachmann 3. Ania Loomba: Kolonyalizm Postkolonyalizm (Zitate 4. Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Übersetzung: Traugott König