Demokratische Nation und Nationalstaat – Teil 2

Im ersten Teil (1) wurde versucht, einen kleinen Einblick in die Diskussionen um die demokratische Nation und Nationalismus zu geben. Dabei wurde insbesondere die historische Perspektive im Apoismus untersucht und Staatlichkeit und Nationalismus als Vorbedingungen für die kapitalistische Moderne herausgearbeitet. In diesem Teil soll nun der ideologische Bogen vom Protestantismus über den Liberalismus hin zum Kapitalismus geschlagen werden, mit einem Schwerpunkt auf den mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen.

»Nur wenn Staatsmacht als Nationalstaat organisiert ist, kann die kapitalistische Moderne und insbesondere ihre Profitmaximierung und Kapitalakkumulation durch die Ökonomie realisiert werden«, (2) stellt Öcalan fest. Es reicht nicht aus, den Nationalstaat als tyrannisches und monistisches Modell zu interpretieren, ausschlaggebend für den Aufstieg des Kapitalismus war auch die Ideologie des Liberalismus. Die Auseinandersetzung mit der Ideologie des Liberalismus wird umso wichtiger, wenn wir gesellschaftliches Leben und Mentalität (3) in der kapitalistischen Moderne in der BRD begreifen wollen.

Die aufkommende liberale Ideologie ist eng mit den Interessen der aufsteigenden Bourgeoisien verbunden und kann als politisches und ökonomisches Äquivalent zum quasi religiösen Dogma der Bourgeoisien – dem Nationalismus – betrachtet werden. Im ersten Teil wurde dargelegt, wie die Nationalstaatsbildung mit der Entwicklung interner Märkte zusammenhing. Liberalismus ist die Ideologie, welche die Kontrolle der Monarchen und Herzöge wie auch der Zünfte und anderen Zusammenschlüsse über die Märkte aufweichte und den Weg freimachte für die aufstrebenden bürgerlichen Klassen.

Schritte zur kapitalistischen Ökonomie

Während im mittelalterlichen Europa die Produktion insbesondere in den Städten nicht auf Konkurrenz, sondern an den Bedürfnissen der Gemeinschaft und wenn nötig ihrer Feudalherren orientiert war, war es notwendig zur Durchsetzung von Profitmaximierung und Akkumulation diese Produktionsweise zu ändern. Dies galt insbesondere auch für ländliche Regionen, in denen Dörfer über ihre Allmende-Ländereien verfügten und für die eigene Subsistenz und eben nicht primär für den Markt produzierten. Ähnliche Institutionen wie die Allmende gibt es in den verschiedensten Regionen als Commons, Ejido oder auch Saynoca. Diese Lebensformen sind bzw. stellen in Europa meistens lebendige Kollektivität dar, wie sie das Leben vor der Stratifizierung von Gesellschaft und der Aneignung von Privateigentum an Produktionsmitteln geprägt haben muss. Diese nicht entfremdete Gesellschaftsform wird von Abdullah Öcalan als die »natürliche Gesellschaft« bezeichnet. Im mittelalterlichen Europa war also die Landwirtschaft kollektiv und die Gemeinschaft hatte ihre Abgaben in Form von Arbeit und/oder Gütern an die Feudalherren zu leisten. Auch das Wertemodell der mittelalterlichen Gesellschaften hatte an das kollektive Leben angepasste Züge, so wurde Generosität geachtet, während Geiz zu den Todsünden gehörte. (4) Menschen leisteten in kollektiven Bewegungen Widerstand gegen die personalisierten Manifestationen der Macht – die weltlichen und geistlichen Feudalherren. Es gab einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Widerständigkeit in Städten und auf dem Land. Die Städte waren zu Zentren der Kapitalakkumulation geworden, während die ländlichen Gegenden von Subsistenzproduktion immer mehr auf die Produktion von »Cash-Crops« umgestellt wurden. Wir können hier einen Wandel vom Gebrauchswert zum Tauschwert feststellen. Das Aufkommen der Reformation und des Protestantismus muss daher vor dem Hintergrund der merkantilistischen, staatskapitalistischen Produktionsweise interpretiert werden. (5)

Protestantismus – von sozialer Befreiungsbewegung zur absoluten Kontrolle

Marx stellte treffend fest: »Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.« (6) Wir können die Entwicklung der Reformation als Vorbote des Verrats des Bürgertums an der Französischen Revolution betrachten. Martin Luther stützte seine Reformation auf die Kraft der sozialen Bewegung der Bauern des 16. Jahrhunderts, ging jedoch ein Bündnis mit den Feudalherren ein und verriet die bäuerlichen Revolutionärinnen und Revolutionäre um Thomas Müntzer an diese und die protobourgeoisen Klassen, welche Zugang zu Land und Menschen unter der Kontrolle der katholischen Kirche suchten. Während Sozialrevolutionäre wie Thomas Müntzer die Illegitimität von Herrschaft und die Befreiung von Fürsten und Klerus predigten und sich dabei sowohl auf Stadtbürger wie auch auf die Bauernbewegung stützen konnten, orientierte sich Luther an der Obrigkeit und stellte den Status quo als per se gottgewollt dar, Müntzer berief sich auf ein Widerstandsrecht gegen Unterdrückung. (7) Er setzte auf das widerständige Kollektiv zur Errichtung des Himmelreichs auf Erden, während Luther für die Erlösung aus dem individuellen Zugang und der individuellen Interpretation der biblischen Lehre agitierte. Die Durchsetzung dieser konterrevolutionären Tendenz ermöglichte durch die Prädestinationslehre (alles ist gottgewollt und entsprechend vorherbestimmt) und die damit zusammenhängende bedingungslose Wahl die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Prädestinationslehre und bedingungslose Wahl bedeuten in diesem Zusammenhang, dass Gott diejenigen schon ausgewählt hat, die gerettet werden sollten. Das Nächste war die konsequente, calvinistische Interpretation dieses Dogmas, dass sich die Gunst Gottes also im Wohlstand auf Erden manifestierte. Selbst Wohltätigkeit war damit nicht mehr Teil der calvinistischen Praxis, wie sie sich vor allem in den Zentren des aufkommenden Kapitalismus wie in den Niederlanden oder auch Großbritannien durchsetzte, denn Arme waren aufgrund der Ungunst Gottes arm. Damit ist der Grundstein für die von Max Weber ausführlich beschriebene protestantische Ethik gelegt. Diese Entwicklungen, die sich im Kontext des aufkommenden Merkantilismus und Frühkapitalismus vollzogen, wurden von massiven Enteignungen kommunalen Landes von den Gemeinden begleitet. Auch gegen die als Einhegungen bezeichneten Enteignungen entwickelte sich vielerorts Widerstand, wie beispielsweise der Levellers in Großbritannien. Die Enteignung hatte auch eine ökonomische Kehrseite, sie bildete die Grundlage um den neuen imperialen Projekten und schließlich der Industrialisierung die Arbeitskräfte zu stellen. (8) Der Entzug der Subsistenz führte zu neuen moderneren tiefgreifenden Abhängigkeitsverhältnissen. Mentalitätsgeschichtlich wird harte Arbeit als Sinn des Lebens durch die protestantische Ethik zum Ideal. Ein krasser Kontrast zum Mittelalter, in dem Arbeit als Bestrafung und nicht als Mittel zur Erlösung betrachtet wurde. In den Bibelübersetzungen dieser Zeit manifestiert sich dieses Ideal unter der Verwendung der Terminologie »Holz hauen und Wasser tragen.« (9) So wie Abdullah Öcalan die Durchsetzung des Patriarchats im ausgehenden Neolithikum und jede weitere Durchsetzung von Herrschaft und Staatlichkeit als gewaltförmige Prozesse beschreibt, war auch die Durchsetzung der bürgerlichen Herrschaft, die zum modernen neoliberalen Kapitalismus führte, ein solcher gewalttätiger Prozess mit zu jedem Zeitpunkt unklarem Ausgang. Zuerst die Subsistenz und später die Kollektivität auch der Arbeiterschaft mussten immer wieder zerschlagen werden, um das Funktionieren des Kapitalismus zu garantieren. Dieser Zerstörungsprozess zeigte sich auch auf einer ideologischen Ebene durch die Entwicklung des Liberalismus, dessen Wurzeln tief in der protestantischen Ethik vergraben liegen. Insbesondere die calvinistischen Kirchen waren keine Orte zur Rettung von Seelen, sondern Disziplinaranstalten von Gottes Staatsräson – der vorherbestimmten Entscheidung über Verdammnis oder Erlösung. (10) So wird das Individuum immer mehr durch die protestantische Ethik in die Verantwortung für seine eigene soziale Position gebracht. Reich zu sein, rationales, methodisches, erfolgsorientiertes Handeln bezeugten die Gnade Gottes. Eine brutale Ideologie, die sogar die Legitimierung des Genozids an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas erlaubte. So argumentierten Puritaner, dass ihr Völkermord an der indigenen Bevölkerung Nordamerikas »manifest destiny«, also manifestierte Vorhersehung sei – ganz dieser Logik folgend fand daher auch keine Missionspolitik statt. Die Puritaner sahen sich auf der Gewinnerseite und die indigene Bevölkerung auf der Verliererseite, weil Gott dies schon lange entschieden habe. (11) Die bürgerliche Klasse mit ihrem weltweiten Sendungsbewusstsein erschuf sich den christlichen Gott nach ihrem Ebenbild – weiß, männlich und weltbeherrschend.

Protestantismus und Liberalismus

Wir können also eine deutliche Verschränkung zwischen dem Denken der kapitalistischen Moderne und protestantischer Ethik feststellen, die bis ins Familiäre, in die patriarchale Kleinfamilie als Reproduktionskern von Arbeitskraft und Herrschaft im Gegensatz zum mittelalterlichen Großfamilienverband dient. Im Kapitalismus, wie auch in der protestantischen Ethik, wird der Wert einer Person an ihre Produktivität geknüpft. Diese Denkschule bildet die Basis für die Entwicklung liberaler Theorien von Adam Smith bis Thomas Malthus. Adam Smith entwickelte in seinem Werk »Wohlstand der Nationen« das Konzept, in dem das Ausleben des individuellen Profitinteresses auf einem unregulierten Markt die beste Form sei, Wohlstand zu generieren. Seine Theorie basierte darauf, das Konzept des Tauschwerts auf die ferne Vergangenheit zu projizieren. Bis jetzt gibt es keinen einzigen archäologischen oder ethnologischen Beleg dafür – im Gegenteil, wir sehen in nichtkapitalistischen Gesellschaften, dass statt des Tauschwertes der Gebrauchswert im Mittelpunkt steht und Ökonomieformen durch Schenken, Redistribution und Reziprozität und andere Mechanismen organisiert sind. (12) Smith´ Konzept atmet den Geist des Individualismus – die Summe der Eigeninteressen würde das Gesamtinteresse ergeben. Hier werden Grundsteine für zentrale Widersprüche des Kapitalismus gelegt – Gewinnmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur mag kurzfristig profitabel sein, langfristig bedeutet es jedoch Vernichtung. Während Smith protestantische Ethik auf die Ökonomie anwendet, greift Malthus in die Trickkiste der Bevölkerungspolitik. Sein Konzept der Armutsbekämpfung war es, die Zahl der Armen durch Hunger zu reduzieren. »Manifest destiny«, Prädestination, die Bestrafung der Armen für ihre selbstverschuldete Armut; Malthus ist immer noch angesehen, wenn es ums Thema Bevölkerungspolitik geht.

Positivismus – die Methode des Liberalismus

Die Theoretiker des Liberalismus zeigen offen, dass alles quantifiziert und rationalisiert werden kann. Der frühbourgeoise Rationalismus grenzt sich bewusst vom katholischen Mystizismus ab und gibt dem Patriarchat einen neuen Schub. Im Rationalismus, der ebenso weiß wie männerdominiert ist, ist kein Platz mehr für Frauenfiguren wie Maria – der Himmel entvölkert sich, dort befinden sich nun nur noch Gott, Jesus und der Heilige Geist – zumindest vorläufig. Denn der Positivismus reduziert die Welt, die Natur, die Menschheit, das Denken und Fühlen auf »erwiesene Fakten« – alles wird vermessen und kategorisiert. Das »objektive« analytische Denken wird als frei von Ideologie und sozialen Bedingungen dargestellt. Wissenschaftliche Objektivität selbst stellt aber in diesem Zusammenhang die Transformation von Diskurs und Ideologie in »Fakten« dar. So wie die Sumerer in ihren ersten Berufslisten gesellschaftliche Hierarchie für Jahrtausende festschrieben, ja essentialisierten, versucht die Objektivität dies mit der herrschenden Gesellschaftsordnung als Ausgangspunkt der »Objektivität« zu tun. Denn die positivistische Klassifizierung, Aufspaltung und Strukturierung ist nichts anderes als die Methode des Liberalismus. Der Positivismus reduziert die Menschheit auf nur nach eigenem Vorteil handelnde Singularitäten und die Natur auf passive Materie, die es zu beherrschen gilt. Religion wird in diese Richtung rationalisiert und auf die Konzepte des Menschen im »Kampf ums Dasein« reduziert. So wurde im 19. Jahrhundert Darwins Evolutionstheorie im Sinne des Nationalstaats auf die Gesellschaft übertragen – und so dem Nazi-Terror der Weg geebnet. Die Machtinteressen der Nationalstaaten wurden durch Rassentheorien in die Form vermeintlich objektiver Notwendigkeiten gegossen.

Der biologistische Rassismus und die Pathologisierung von Frauen unter der Diagnose »Hysterie« im 19. Jahrhundert sind Ecksteine dieser neuen Form der Macht. Das dichotome Denken in Gegensatzpaaren, die Kategorisierung von allem auf der Welt durch ein »objektives« Äußeres (z. B. den Forscher) ist tief im christlich-jüdischen Glaubenssystem verwurzelt – im Buch Genesis der Bibel steht die bezeichnende Anweisung Jahwes an die Menschen »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch …« (13) Der Mensch ist Subjekt, die Erde ist Objekt. Die herrschenden Klassen sind Subjekt, während die Beherrschten im Kapitalismus auf Begriffe wie »Kräfte« oder »Humankapital« reduziert werden. Der Positivismus verschärft dieses Konzept noch, da er die Idee des Fortschritts mit der Herrschaft über die Natur verbindet. Wir könnten zugespitzt von einer neuen Form der heiligen Herrschaft sprechen, eine heilige Herrschaft durch das Bürgertum, deren Religionsersatz der Nationalismus ist und der Bürger deren Priester – mit oder auch ohne religiöse Verkleidung.

Aber nicht nur für die rassistische Aufspaltung der Gesellschaft und die Legitimierung von Kolonialismus wurde der Sozialdarwinismus benutzt. Sozialdarwinismus wurde eine der zentralen Säulen dessen, was wir heute als Neoliberalismus bezeichnen – und was konkreter als Klassenkampf der herrschenden Klassen bezeichnet werden sollte. Herbert Spencer, der immer wieder als »Vater« des Neoliberalismus bezeichnet wird, benutzte in seinen Darlegungen Kategorien des Sozialdarwinismus, um kapitalistische Ausbeutung und Akkumulation zu erklären. Seine Studien waren von John D. Rockefeller und Thomas Edison bezahlt worden und so stellte er fest, dass soziale Ungleichheiten »natürlich und notwendig« seien. (14)

Liberalismus und Nationalismus

Die Symbiose zwischen Liberalismus und Nationalismus mag widersprüchlich erscheinen, ist aber heute so relevant wie selten zuvor. Insbesondere die neoliberale Ideologie des Standortnationalismus zeigt dies deutlich, indem der Staat immer mehr als eine Institution um die Gunst des internationalen Kapitals wetteifert. Der »nationale Wettbewerbsstaat« (15) wird als ein politisch-ökonomisches Projekt des Neoliberalismus definiert, durch das alle Teile der Gesellschaft dem Paradigma der internationalen Wettbewerbsfähigkeit unterworfen werden. (16) Das Hauptziel des Liberalismus ist es, den Staat vollkommen unter die Kontrolle des Kapitals zu bringen. (17) Während sich der Liberalismus einen antistaatlichen Anschein gibt, ist ein starker Staat seine Existenzgrundlage. Adam Smith definierte den Schutz des Privateigentums als Kernaufgabe des Staates – also den Staat als Verteidiger des Klassensystems. Während der Liberalismus die Gleichheit aller behauptet, konserviert und verschärft er die Ungleichheit auch dadurch, den gesellschaftlichen Widerspruch von Kollektiven und Klassen in einen Widerspruch zwischen Individuen zu transformieren. Dies wirkt sich so aus, dass in Deutschland beispielsweise kaum ein Bewusstsein darüber besteht, dass es ein Problem mit patriarchaler Gewalt gibt und das trotz der Tatsache, dass in Deutschland 2014 35 % der Frauen angaben, Opfer solcher Gewalt geworden zu sein. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. (18) Patriarchale Gewalt und Feminizid werden als singuläre Familiendramen bezeichnet, wenn sie in der »eigenen« Gesellschaft stattfinden, während patriarchale Gewalt beim »anderen« verortet wird.

Der Individualismus im Kontext liberalen Denkens

Wie wir gezeigt haben, produziert der Liberalismus Individualismus oder besser Egozentrismus, der die Gesellschaft in isolierte, konkurrierende Kleinsteinheiten aufspaltet. Liberalismus kann deswegen niemals Freiheit bedeuten, sondern stellt nur das Gegenteil von Kollektivität dar. Ihm wohnt das Paradoxon inne, dass er einerseits viel Wert auf individuelles Verhalten legt, andererseits aber dieses Konzept durch eine Form von Fatalismus »manifest destiny« abrundet: Konkret heißt das, das Individuum jeglicher Kollektivität beraubt bekommt die Haltung, nur ein kleines Sandkorn zu sein, ein kleines Subjekt, das vor der gewaltigen Maschinerie des Staats nur resignieren kann. Freiheit wird unter dem Paradigma versprochen »das Individuum ist alles, die Gesellschaft ist nichts«, dieses führt interessanterweise zum selben Ergebnis wie seine Antithese, »die Gesellschaft ist alles, das Individuum nichts«. Beides beraubt die Gesellschaft und damit das Individuum ihrer Macht, seiner Fähigkeit, die Realität zu gestalten. Diese Form des Absolutismus führt automatisch zu gespaltenen Individuen – Spaltung zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Dienst und Freizeit, zwischen der Mentalität eines politischen Menschen und eines Arbeitsmenschen, zwischen der Tätigkeit eines Vollstreckers von Abschiebungen und eines liebenden Familienvaters …

Die Gesellschaft besteht aus Kollektiven und Individuen – der Liberalismus greift genau diese Struktur der Gesellschaft an und schafft Charaktere, wie sie für die kapitalistische Moderne passend sind. Die Verantwortung für den Status quo wird dem Staat übergeben und gerne von ihm genommen – ein Leben ohne Staat wird unvorstellbar. Die Individuen in ihrer Angst voreinander sehen sich gegenseitig als Wölfe, sie können nur durch Staatsmacht einander »Gott werden«. (19) Hobbes schrieb diese Sätze Anfang des 16. Jahrhunderts, als sich der Kapitalismus und der moderne Staat zu entwickeln begannen – wenn wir uns die folgenden Jahrhunderte betrachten, dann haben die kapitalistische Moderne, der Nationalismus und der Etatismus mehr »menschliche Wölfe« hervorgebracht als je zuvor. Ein Hinweis am Rande, Hobbes tut den Wölfen unrecht, sie sind gewiss nicht so grausam – das Hobbessche Axiom des Etatismus ist zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Durch die Naturalisierung von Staatsmacht werden alle Formen von Staatsräson akzeptabel. Aber dennoch existiert die demokratische Moderne überall und in uns allen, sie zeigt sich in historischen Momenten wie der Revolution von Rojava, aber auch in all den kollektiven und solidarischen Handlungen überall auf der Welt.


(1) Annäherung an den Begriff der »Demokratischen Nation«

(2) Abdullah Öcalan, KÜRT SORUNU VE DEMOKRATIK ULUS ÇÖZÜMÜ, Kültürel Soykırım Kıskacında Kürtleri Savunmak, 2016, S. 45

(3) Mentalität ist hier als eine Form der Grundhaltung angesprochen.

(4) Vgl. z. B. Gemälde: Geiz, Habgier (Avaritia) – nach dem Petrarcameister (1. Drittel 16. Jahrhundert).

(5) Cf. e.g. painting: Avarice, Greed (Avaritia) – after the Petrarch Master (1st third 16th century).Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Band 8, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115.

(6) Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 913.

(7) Vgl. Goertz, Hans Jürgen, Thomas Müntzer, Revolutionär am Ende der Zeit.

(8) Linebaugh & Rediker, S. 50

(9) Vgl. Scott, Donald M., «The Religious Origins of Manifest Destiny” Divining America, National Humanities Center. 17.01.17 ESSAY

(10) Vgl. Graeber, David, »Debt – the first 5 000 years«.

[‚(11) Bible, Gn 1:28.‘]

(12) Comp. Monbiot, George (2016): How did we get into this mess? Politics, equality, nature. London, New York NY: Verso. Pos. 92.

(13) Hirsch, Ludwig, »Der nationale Wettbewerbsstaat«.

(14) Comp. Hirsch, 1995, S. 13.

(15) Comp. Smith, 1974, S. 106.

(16) Hobbes, 1966, Widmung 59.

(17) The democratic nation and the state (part 1) Approaching the concept of „Democratic Nation“: A continuous change in self-perception

(18) Abdullah Öcalan, Democratic Nation, 2016, p. 48,

(19) Ibidem.